Jetzt ist Schluss mit lustig

Noch nie wanderten so viele 1.-Mai-Steinewerfer in U-Haft wie in diesem Jahr. Anwälte und Grüne fordern vom Senat nun Aufklärung, denn U-Haft aus Abschreckungsgründen wäre rechtswidrig

VON PLUTONIA PLARRE

Nach dem als erfolgreich bewerteten 1. Mai-Einsatz der Polizei schlägt die Justiz nun über die Stränge. Von den über 100 mutmaßlichen Steinewerfern, die bei den Krawallen festgenommen wurden, sitzen nach Informationen der taz unverhältnismäßig viele in Untersuchungshaft. Anwaltsorganisationen und die Fraktion Bündnis 90/Grüne vermuten, dass die Untersuchungshaft zum Zwecke der Generalprävention – im Volksmund „Abschreckung“ – missbraucht wird. Aufklärung wird nun von Justizsenatorin Karin Schubert (SPD) gefordert, allerdings nicht nur die richterlichen Haftbefehle betreffend.

Schon vor dem 1. Mai hatten Polizei und Staatsanwaltschaft keine Zweifel daran gelassen, dass in diesem Jahr gegen Krawallmacher hart durchgegriffen werde. Wie generalstabsmäßig das Vorgehen nach taz-Informationen geplant wurde, zeigt, dass in der chronisch überbelegten Untersuchungshaftanstalt Moabit eigens Platz für die erwarteten Neuzugänge geschaffen wurde: Insassen wurden bereits vor dem 30. April in die nicht minder vollen Vollzugsanstalten Tegel und Plötzensee verlegt. Damit es bei den Neuaufnahmen keinen Stau geben sollte, wurde das Vollzugspersonal an beiden Tagen rund um die Uhr verstärkt. In den Gefangenensammelstellen schoben mehrere Staatsanwälte und Bereitschaftsrichter Sonderschichten. Justizsenatorin Schubert und der Generalstaatsanwalt am Kammergericht, Dieter Neumann, überzeugten sich bei einem Besuch vor Ort persönlich vom reibungslosen Ablauf. Dies alles nicht, um Einfluss auf die Verfahrensweise der Staatsanwälte und Richter zu nehmen, wie Justizsprecherin Andrea Böhnke betont, sondern, „um Solidarität mit den über Gebühr Dienst Schiebenden zu bekunden“.

Viele Spekulationen stehen nun im Raum:Trifft es zu, dass Haftbefehle schon vor der Anhörung der Beschuldigten vom zuständigen Richter unterschrieben, abgestempelt und damit erlassen waren, wie ein Rechtsanwalt beobachtet haben will? Haben sich die Richter dem Verfolgungsdruck der Staatsanwaltschaft gebeugt und deshalb so selten Haftverschonung zugelassen? Hat es gar Absprachen zwischen beiden Parteien gegeben? Fragen, die nicht nur der Republikanische Anwaltsverein und die Vereinigung der Berliner Strafverteidiger von der Justizsenatorin beantwortet haben möchten. Der Fraktionschef der Grünen, Volker Ratzmann, will das Thema am kommenden Donnerstag im Rechtsausschuss des Abgeordnetenhauses zur Sprache bringen.

Nicht mal über die genaue Zahl der Haftbefehle herrscht Klarheit. Der Leiter der zuständigen Abteilung, Oberstaatsanwalt Jürgen Heinke, spricht von „über 100“ Haftbefehlen. Im Vergleich dazu: 2003 wurden insgesamt 56 Haftbefehle erlassen, im Jahr davor 41, 2001 waren es 38. Damit ist 2004 ein Rekord erreicht, und das, obwohl es deutlich weniger Krawalle als üblich gab.

Unter den „über 100“ Haftbefehlen sind 28 Fälle, in denen es Haftverschonung gab. „Über 70“ Beschuldigte wanderten laut Heinke stante pede in U-Haft. Zurzeit finden in Moabit in Sachen 1. Mai zwar Haftprüfungstermine statt. Aber die Mehrzahl der Verhafteten, so der Oberstaatsanwalt zur taz, sitzt immer noch. Die deutliche Zunahme der Haftbefehle ist für Heinke Ausdruck eines Umdenkens von Polizei und Justiz, „dass Schluss mit lustig ist“. Die Vielzahl der Haftbefehle sei das Ergebnis einer täterorientierten Aufklärungsarbeit und einer hohen Motivation bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Die „wasserdichte Beweislage“ habe die Bereitschaftsrichter überzeugt.

Unabhängig davon sei die Justiz aber ohnehin „nicht mehr geneigt, bei 1.-Mai-Straftätern Milde walten zu lassen“. Die Oberstaatsanwalt zeigt sich befriedigt über die Rechtsprechung in zwei Prozessen wegen schweren Landfriedensbruchs in Zusammenhang mit Krawallen vom 1. Mai 2003, in denen Haftstrafen ohne Bewährung ergangen sind.

So erdrückend die Beweislage sein mag: Dass den Beschuldigten vielleicht eine Haftstrafe erwartet, rechtfertigt keine Untersuchungshaft. Denn: Untersuchungshaft darf keine vorweggenommene Strafe sein. Sie darf nur zur Sicherstellung des Gerichtsverfahrens angeordnet werden. Also wenn der Beschuldigte keinen festen Wohnsitz hat, wenn es Anhaltspunkte für Flucht- oder Verdunklungsgefahr gibt oder einschlägige Vorstrafen eine Wiederholung der Tat befürchten lassen. Die Frage ist, mit welcher Begründung die Bereitschaftsrichter den über 70 Beschuldigten Haftverschonung verweigert haben. Womöglich mit der Argumentation, dass aufgrund der zu erwartenden Strafe Fluchtanreiz bestehen könnte, die oft herhalten muss.

„Mir ist kein Fall bekannt“, sagt dazu der langjährige Vorsitzende des Republikanischen Anwaltsvereins, Wolfgang Kaleck, „wo ein Beschuldigter wegen Steinwürfen untergetaucht ist.“ Er sieht die Untersuchungshaft hier für generalpräventive Zwecke missbraucht. „Wenn sich das bestätigt“, so der Vorsitzende der Vereinigung der Berliner Strafverteidiger, Stefan König, „wäre das grob rechtswidrig.“