„Individualität ist nicht so wichtig“

Erstmals nach dem Eklat um das „Manieren“-Buch seines Freundes Prinz Asserate ergreift der Schriftsteller Martin Mosebach das Wort. Ein Gespräch über Benimmkonkurrenz, Katholizismus und Kunst, verborgene Vollkommenheit, schwitzende Leinwände und das verlorene geistige Lehramt des Suhrkamp Verlags

INTERVIEW VON NIKE BREYER

Nein, sagt Martin Mosebach, 52, die Frankfurter Adresse Nähe Palmengarten sei das Büro. Er wohne nicht dort. Es sei auch nicht das Haus seiner Eltern, das sei eine von der Presse bedauerlicherweise kolportierte Falschmeldung. Man könne das Interview aber gerne dort führen. In der zierlichen Dachwohnung des Gründerzeithauses nimmt man in Polsterstühlen Platz. Ein Hauch von Biedermeier, unbieder, unmuseal. An den Wänden Ölbilder, Grafiken, Zeichnungen. In den Wandregalen, auf dem Schreibtisch Zettel, Bücher, Bücher, Bücher. Darunter pergamentene und ledergebundene Exemplare von beträchtlicher Würde und vermutlich ebensolchem Wert.

taz.mag: Herr Mosebach, in Ihrem Manifest „Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind“, das im vergangenen Jahr erschien, zeichnen Sie die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils aus den Jahren 1963 bis 1965 als Instrument nicht der Erneuerung der katholischen Kirche, sondern ihrer Zerstörung. Eine sehr provokative These. Sehen Sie sich selbst als katholischen Schriftsteller?

Martin Mosebach: Nicht in dem Sinn, wie man einen Georges Bernanos, François Mauriac oder Julien Green als katholische Schriftsteller sehen mag. Diese Art Literatur gehört für mich zur art engagé, wie der kommunistische Roman. Das ist eine Literatur, die apologetischen Charakter hat, die etwas beweisen will. Das kann auch gelingen. Aber das wird niemals meine Sache sein. Die genuin katholischen Autoren können sich nicht als Vertreter einer Partei empfinden, weil sie im Grunde für unmöglich halten, dass es außerhalb des Katholischen noch irgendetwas gibt.

Sie meinen, es gibt nur katholische Lösungen für globale Probleme?

Ich meine, es gibt überhaupt keine Lösungen. Das hat die moderne katholische Literatur nicht verstanden. Diese Literatur empfinde ich als defensiv, als Ausdruck einer Zeit, in der der Katholizismus eine mühsam errungene Position ist, die irgendwie „eingebracht“ werden muss. „Ulysses“ dagegen ist wirklich ein katholischer Roman. Er flucht, er ist blasphemisch, er ist in einer rasenden Opposition gegen die katholische Kirche. Dabei wäre dieses Buch keinen Zentimeter dick geworden, wäre es nicht auf katholischem Boden gewachsen.

Der Filmproduzent Thomas Schühly spricht von einer spirituellen Opposition katholischer Film versus jüdischer Film. Im ersten ordne sich alles unter das Prinzip Gnade, im zweiten unter das Prinzip Gerechtigkeit. Sehen Sie eine ähnliche Struktur für den katholischen Roman?

Langsam bitte! Man kann Gnade und Gerechtigkeit nicht gegeneinander ausspielen. Das ist ja gerade der Triumph des Christentums, dass es in Paradoxien formuliert ist: Gottheit und Menschentum von Jesus, Gnade und Gerechtigkeit, Tod und Leben. Der Versuch, diese Widersprüche zu zähmen, ist Verharmlosung und schwächt die Erscheinung des Christentums.

Sie scheinen etwas dagegen zu haben, den Katholizismus als Konfession zu bezeichnen.

Das Große an der katholischen Religion ist ja, dass sie das Heidentum in sich aufgenommen hat oder besser wirklich wie der Schlussstein … man kann fast sagen: aller Religionen geworden ist. Man ist als Katholik nicht eigentlich Mitglied einer bestimmten Religion.

Sondern?

Dazu gibt es eine schöne Anekdote. Nach zweitausend Jahren Christentum wurde in Trastevere, diesem alten römischen Volksviertel, das muss um 1950 gewesen sein, eine Umfrage gemacht: Was ist die Heilige Dreifaltigkeit? Die Antwort war: Jesus, Maria und der heilige Antonius von Padua. (Heiterkeit) Das ist typisch. Je katholischer das Milieu ist, desto weniger wissen die Leute vom Katholizismus.

Eine ungewöhnliche Sicht.

Ja, das ist den Katholiken tatsächlich geglückt, ihre Religion zu einem epischen Grundmuster zu machen. Die Unauflöslichkeit von Paradoxien ist wirklich der Grundzug vieler Epen. Abseitige wissenschaftliche Thesen, verstiegene Weltanschauungen sind zur Welterklärung vielleicht unbrauchbar, können sich aber glänzend als Grundlage von Romanen eignen.

Muss man als Epiker also katholisch sein?

Es ist verblüffend, wie viele Romanciers feindselig, unbewusst, aber auch zustimmend auf den Katholizismus fixiert sind. Aber es gibt selbstverständlich auch ganz andere Bezugssysteme für Romane.

Auch Verschwörungstheorien …

Es gab in Offenbach einen jüdischen Schüler von Schopenhauer. Er nannte sich Philipp Mainländer. Seine Vorstellung war: Gott ist tot, und nun verwest dieser Gotteskörper, und dieser Zerfall ist die menschliche Geschichte.

Puh!

Gott stirbt vor der Geschichte. Mainländer hat das wirklich geglaubt und sich konsequenterweise umgebracht. Seine Schwester hat sein Werk herausgegeben, dann hat auch sie sich umgebracht. Konsequente Nihilisten sozusagen. Ich stelle mir gerne vor, dass diese Vision eine vorzügliche Grundlage für ein großes Epos sein könnte. Allein die Vorstellung eines verwesenden Gottes weckt tausend Bilder à la Blake.

Sie betonen, dass Sie in Ihrer Jugend religiös indifferent gewesen seien. Gab es ein Initiationserlebnis?

Nein. Es war das wachsende Bedürfnis, mich mit meinem Schöpfer in eine Beziehung zu setzen. Weil ich empfand, dass das Bewusstsein darüber, dass man ein geschaffenes Wesen ist und abhängig von Gott, die Einsicht in die menschliche Conditio ist. Der wollte ich genügen, und zwar nicht auf eine irgendwie private Art und Weise, sondern auf die Art, wie das alle getan haben, die das vor mir auch schon gewusst haben.

Wie meinen Sie das?

Ich vermute, dass aufgeklärt oder nicht aufgeklärt zu sein weniger mit intellektueller Einsicht zu tun hat als mit dem Zugehören zu einem bestimmten Menschentypus. Ich gehöre zu dem nicht aufgeklärten und nicht aufklärbaren Menschentypus. „Aufklärung“ in ihren optimistischen wie pessimistischen Schattierungen hat mich von Kindesbeinen an umgeben. Ich habe ihre Botschaft gehört und verstanden, aber ich glaube sie nicht. Ich habe eine andere Mentalität, eine, die möglicherweise hoffnungslos nicht auf der Höhe ihrer Zeit ist. Das muss ich hinnehmen. Ich glaube aber, dass jeder Künstler seine unaufgeklärten Ecken besitzt, ja dass man nicht schöpferisch sein kann, wenn man die Welt nicht als belebte und bedeutungsvolle Ordnung begreift, die auf eine hinter ihr verborgene unsichtbare Vollkommenheit bezogen ist. Und diese Vollkommenheit muss etwas Reales sein, etwas bei aller Unsichtbarkeit am besten Körperliches. Künstler können nicht von Begriffen leben. Zeichen können für sie nur anregend sein, wenn sie auf etwas Reales, Objektives deuten.

Die Zeitschrift Psychologie heute titelte auf dem Cover ihrer März-Ausgabe „Rituale. Nutzen Sie die Kraft sinnvoller Traditionen“. Zeichnet sich eine Neubewertung „unaufgeklärter“ Lebenspraxis ab?

Ich bin kein guter Beurteiler meiner Zeit. Sie stellt sich mir undeutlich dar. Da gilt für mich der schöne Goethe’sche Satz: Die Epoche bietet keinen Standpunkt, von dem aus sie betrachtet werden kann. Um gesehen zu werden, muss sie verstreichen. Die Skulptur dieser Zeit wird erst sichtbar werden, wenn das Feste übrig bleibt und das Verwesliche verschwunden ist. Wenn ich mich aber dennoch frage, was die Gegenwart politisch von der Vergangenheit scheidet, dann scheint mir das wichtigste Phänomen das Unsichtbarwerden der Macht, speziell in Europa, zu sein. Der europäische Einigungsprozess führt zur Auflösung der nationalen Souveränitäten, an deren Stelle nichts klar Formuliertes tritt.

Die Macht gibt es natürlich, und sie wird auch ausgeübt.

Aber von wem und wie, das alles ist gegenwärtig weniger sichtbar denn je. Der Verzicht auf Souveränität, das muss man sich mal vorstellen, ist heute ein Zeichen des Fortschritts. Aber es sind die Völker, die nicht mehr souverän sein sollen. Eben hat man das gerade noch für sie errungen, im Sinne von „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“, da soll das schon wieder hingegeben werden. Die Nation war ja der Konkretisierungsort der Demokratie. Demokratie ohne Nation war etwas vollkommen Undenkbares.

Und ist es womöglich immer noch.

Was gegenwärtig geschieht, ist etwas, was kein Mensch mehr wirklich versteht. Da fällt es schwer, mit vollem Herzen Zeitgenosse zu sein. Das, womit man sich identifizieren könnte, löst sich auf: die Familie, die Religion, die Nation, eine Sprache, ein bestimmtes kulturelles Bewusstsein. Das macht sicherlich viele Leute nervös. Es ist das Gefühl, im Nebel zu stehen.

Gerade der Schriftsteller ist an seine Sprache gefesselt, mithin an eine kulturelle Identität.

Das ist ja klar, dass ich von der Tatsache, dass ich Deutscher bin, nicht absehen kann. Das wäre ein Wahnsinn, es überhaupt nur versuchen zu wollen. Neulich sagte mir Hans Traxler, dass er lange nicht verstanden habe, wie richtig das Vierte Gebot formuliert sei: Du sollst Vater und Mutter ehren, damit es dir wohl ergehe auf Erden. Wer Vater und Muter nicht ehre, dem könne es eben nicht wohl ergehen, dessen Leben gelinge eben nicht. Das gilt aber auch für das Land, aus dem man stammt, verstanden als die größere Herkunftseinheit. Weil sich in Dissens zu dem Grund zu setzen, aus dem man stammt, selbstzerstörerisch ist.

Sie plädieren energisch für das Annehmen der eigenen Herkunft als Voraussetzung für das Gelingen des Lebens. Ist dementsprechend auch Ihr Katholizismus als Lizenz zum Kuscheln im Menschheitskollektiv zu lesen?

Nein, nein, meine Auffassung von der Religion ist kein Unterschlupfsuchen im frostigen Weltall. Die Verantwortung über den Tod hinaus ist doch eine eher unangenehme Vorstellung. Geborgen fühlen kann man sich doch viel leichter in der Vorstellung verantwortungsloser Endlichkeit.

Warum dann das Betonen der kollektiven Erfahrung?

Ich messe der Individualität keinen besonderen Wert zu. Sie bezeichnet nicht das Wichtigste der menschlichen Person.

Sie wird in unserer Gesellschaft und zynischerweise auch in unserer Konsumkultur gefeiert.

Ja, aber was wir haben, ist massenhafte Individualität. Das ist allerdings ein unfreiwilliges Kollektiv. Man will dem Kollektiv nicht angehören, gehört ihm aber in gesteigertem Maße an.

Das abendländische Bildverständnis, so führen Sie in einem Essay über den Maler Peter Schermuly aus, habe sich, anders als im byzantinisch geprägten osteuropäischen Raum mit dessen Ikonenkunst, aus der Erfahrung der katholischen Liturgie entwickelt. Schlüssel hierfür sei das Moment der „Realpräsenz“ in der Wandlung.

Das Herzstück der katholischen Liturgie ist die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi, ein Akt, der nicht symbolisch verstanden werden will, sondern als die Setzung einer neuen Wirklichkeit, als ein zweiter Weltschöpfungsakt sozusagen, die Umdeutung der Materie. Das ist das Wesen dieses Ritus, und das ist auch der Anspruch der großen europäischen Malerei. So wie man im Mittelalter das Phänomen der blutenden Hostie kannte, so versuchen die europäischen Maler, mit sehr großem Erfolg zum Teil, ihre Leinwände atmen, schwitzen und bluten zu lassen.

Sie haben mehrfach auch über Mode geschrieben, etwa über die Hamburger Designerin Jil Sander. Ich meine im Unterschied zu Ihnen zu beobachten, dass Mode den, der sie trägt, nicht etwa neu erschafft, im Sinne des von Ihnen geschilderten Kunstwerks, sondern dass sie ihn hinter ihrem Zeichencharakter verschwinden lässt. Oft werden die neuesten Looks ja von Menschen getragen, die es nach dem herrschenden Schönheits- und Körperverständnis …

(lachend) … besser nicht täten.

Man fragt sich, welche Kraft sie dazu treibt, es doch zu tun.

Wenn die Mode den Zeitnerv trifft, wird sie zur Tracht. Was ich an Jil Sander bemerkenswert fand, war die Radikalität, mit der sie ein Ideal der Zeit ausgesprochen hat: die arbeitende, vermännlichte Frau, die mit kleinem Gepäck ständig im Flugzeug sitzen muss und eine Karriere als Geschäftsfrau macht. Wenn man die lange Reihe von Modebildern vor sich sieht – wie die Römer angezogen waren, das Mittelalter, das Rokoko, die Zeit Napoleons III. –, dann ist für das ausgehende 20. Jahrhundert diese schwarze oder dunkelblaue Umhüllung des Körpers bestimmend, die keine Geschlechtsmerkmale mehr erkennen lässt.

Sehen Sie das als Zeichen der Entfremdung oder Entwurzelung? Sie klingen wenig begeistert.

Aber darauf kommt es ja überhaupt nicht an. Unter dem Gesichtspunkt, ob sie mir gefällt oder nicht gefällt, kann Mode gar nicht – in Anführungszeichen – professionell betrachtet werden. Mode ist nicht schön. Mode ist ein kollektiver Ausdruck. Wenn auch die Leute, die gar nicht den entsprechenden Körper haben, plötzlich unter dem inneren Befehl stehen, dass sie jetzt auf eine bestimmte Weise angezogen sein müssen, jetzt diese Art Silhouette darstellen, eine bestimmte Art Rock haben müssen, dann zeigt sie ihre Macht. Ich glaube, dass Mode viel weniger lenkbar ist, als man glaubt.

Als Modejournalistin kann ich nur zustimmen.

Ein Modemann kann mit seinen Hervorbringungen ja auch ganz falsch liegen. Die Leute wollen sie eben nicht. Dann wieder ist eine Sache plötzlich tausendfältig da. Eine bestimmte Linie verbreitet sich, indem sie gleichsam springt. Und ebenso plötzlich ist sie auch wieder weg. Das sind Phänomene ähnlich Naturzuständen. Das ist, wie wenn man brodelnden Geysiren in Island zuguckt. Plötzlich stoßen sie Dampf aus, plötzlich kommt etwas Gelbes zum Vorschein, wenn sie Schwefel ausspucken.

Der Designer ist mehr Moderator als Schöpfer.

Er versucht zu erraten: Was wollen die Millionen in diesem Moment? Übrigens etwas, was diese Millionen ja nicht formulieren. Sie können es gar nicht. Aber sie haben alle einen einzigen Gedanken. Wie wenn man an einem Forellenteich steht, und ein Schatten fällt auf das Wasser. Dann zischt der ganze Schwarm in eine andere Richtung, alle fünfhundert Forellen zugleich. Das kann man bei der Mode auch erleben. Es geht so weit (lacht), dass man eine Mode hässlich findet, aber plötzlich das Gefühl hat, die eigene Frau muss jetzt auch so was haben, damit sie in das Gesamtbild passt.

Formulieren auch Romane, Ihre Romane, den Gestus der Zeit?

Ich habe keinen besonderen Blick für meine Sprache. Im Gegenteil, ich stelle immer beunruhigt und sogar enttäuscht und frustriert bei der Arbeit an meinen Texten fest, wie wenig künstlerisch dieser Vorgang ist, wie es da überhaupt nur darum geht, Zweideutigkeiten und Ungeschicklichkeiten zu beseitigen. Diese Arbeit an der Sprache ist für mich ein rein handwerklicher Prozess, ganz ohne irgendeine Art von stilistischem Delirium, sondern wie wenn ein kaltsinniger und wenig begeisterter Lektor sich über die Sachen beugt. Mit einer ähnlich reparierenden Haltung sehe auch ich auf meine Manuskripte. Die Absicht, einen bestimmten Stil zu schreiben, spielt dabei keine Rolle.

Sie werden Ihre literarische Vielseitigkeit darum aber bitte nicht abstellen?!

Nein, nein. Aber das Beunruhigende ist ja, dass es vielleicht schon in wenigen Jahren gar nicht mehr die Gefäße geben wird in den Printmedien, in denen größere Aufsätze erscheinen könnten. Die Zeitungen haben heute weniger Platz. Sie kriegen drei Seiten bei der taz – das sind himmlische Zustände. Woanders gibt es das nicht mehr. Auch die Verlage wandeln sich. In Frankfurt verändert der Suhrkamp Verlag, das Flaggschiff der deutschen literarischen Verlage, seinen Charakter.

Aus dem alten Stiftungsrat, liest man, sind nun alle zurückgetreten. Man ist ratlos.

Nein, das ist man natürlich überhaupt nicht. Das war doch ganz simpel: Der Stiftungsrat ist von Siegfried Unseld als Gremium ohne Entscheidungsbefugnis konzipiert worden. Das ist nun ausdrücklich allen mitgeteilt worden.

Er hat reine Repräsentationsfunktion – wie der Bundespräsident.

Aber das ist doch schon eine wahnwitzige Überschätzung auch dieses gesamten Suhrkamp Verlags, bitte: dass das eine Art Staat sei, wo irgendwelche Senatoren gehört werden müssen. Das ist doch absurd! Das ist einfach eine Firma. Darf ich Ihnen jetzt ein Glas Wein bringen? Dieser dunkle Tee ist doch jetzt unattraktiv.

Ja, bitte! In „Häresie der Formlosigkeit“ plädieren Sie für eine Lesart von Tradition, bei der diese ihre Würde aus ihrer Dauer erhält und nicht aus ihrer Zweckmäßigkeit. Kann man das nicht auf Kultur übertragen?

Sicher. Aber man muss auch sagen, die Kirche ist etwas anderes als ein kleiner Verlag oder auch ein großer Verlag. Es gibt sehr wenige Verlage in Europa, die sich länger als sechzig, siebzig Jahre in ihrem Glanz erhalten. Faber & Faber ist heute auch nicht mehr, was es einmal war.

Verlage brauchen eine bestimmte kulturelle Atmosphäre.

Sie sind ihr Ausdruck! Für Suhrkamp gab es ja diese Übereinkunft, dass es sich dabei eigentlich nicht um einen Verlag handelt. Wie die römische Kirche im Mittelalter der Sorbonne das Magisterium übertragen hatte, so war für die Bundesrepublik das geistige Lehramt, das Magisterium, an den Suhrkamp Verlag übertragen.

Mit den regenbogenfarbigen Bänden als Katechismus.

(heiter) Nun gut, jetzt ist es nicht mehr so. Zum Teil auch, weil es in dieser Form keine Lehrämter mehr gibt.

Ein ähnliches Schwundphänomen wie bei den Zeitungen?

Es gibt keine Gelehrtenschule, die gegenwärtig die führende ist und der man die Interpretation der Zeitläufte verbindlich anvertraut, die uns erklärt, wie es sich mit der Politik gegenwärtig verhält, was deren Ziele zu sein hätten. Man muss sich vorstellen: Ein Mann wie Habermas verherrlicht heute den Status quo. Das ist absurd. Die Vordenker sind jetzt in der Bundesrepublik als bester aller denkbaren Welten angelangt. (hebt sein Glas) Zum Wohl!

Es sieht alles, wie Sie sagen, nach einer großen Affirmation aus.

Affirmation plus hilfloses Fragezeichen, sozusagen. So ein seltsames Schwimmen und zwischendrin Rufen, dass es eigentlich ganz toll ist.

Sie meinen, bei Suhrkamp wird kein zweiter Rat ernannt werden?

Ich meine gar nichts. Aus welchen Gründen auch immer haben die Mitglieder geglaubt, dass das Gewicht ihrer Persönlichkeit hinreichen würde, durch potestas indirecta zu wirken. Es hat übrigens schon einmal ein ähnliches Missverständnis bei Suhrkamp gegeben.

Wann war das?

1968, als die Lektoren die Vergesellschaftung des Verlags forderten. Nun hat sich letztlich die gleiche Generation noch einmal zu Wort gemeldet, die sich schon damals vorgestellt hat, dass sie in einer unbestimmten, gesellschaftsrechtlich nicht näher bezeichneten Weise letztlich zu bestimmen hätte, was mit diesem Verlag geschieht.

Wie ging die Sache aus?

Damit, dass Walter Boehlich und Klaus Reichert und andere Lektoren den Verlag verließen, nachdem sie mit ihrer Forderung selbstverständlich abgeschmettert worden waren. Sie hatten „systemverändernde“ Literatur herausgegeben und sagten: Jetzt wollen wir aber auch mal das machen, was wir immer veröffentlichen.

Wo findet heute Begegnung zwischen einem Autor und seinem Verleger oder Lektor statt?

Frankfurt ist eine kleine Stadt. Es ist fast unmöglich, sich nicht über den Weg zu laufen. Der Kreis der Personen ist nicht besonders groß, und er ist in Frankfurt nicht exklusiv. Jeder kann mitspielen.

Weil Frankfurt eine Bürgerstadt ist?

Hamburg ist auch eine klassische Bürgerstadt, aber mit ihren gesellschaftlichen Zirkeln komplizierter. Was ich so höre. Ich hab’s nie ausprobiert (lacht). Frankfurt nimmt keiner richtig ernst.

Trotz Buchmesse?!

Das ist ein wildes Treiben, das in dieser Stadt landet und genauso plötzlich wieder weg ist. Das wird der Stadt implantiert und wächst nicht aus ihr heraus. Die Frankfurter sind die Nutznießer, aber sie sind nicht die Hervorbringer.

Die Frankfurter selbst bringen gar nichts hervor?

Wenig. Die Frankfurter Literatur besteht gegenwärtig aus Zugereisten: der Regensburgerin Eva Demski, dem Amberger Eckhard Henscheid, dem Thüringer Günter Maschke, dem Balten Robert Gernhardt, der übrigens nicht nur Dichter, sondern auch ein sehr bedeutender Maler ist.

Cartoonist.

Das auch. Aber außerdem ist er richtiger Ölmaler. Ich kann Ihnen was zeigen. Hier, das ist ein Band mit seiner Stilllebenkunst, Räume. Solche Sachen sind typisch für ihn, reizlose Ausschnitte sozusagen, die nichts ausgesucht Landschaftsschönes haben, Hausecken, Schuppen, ein Blick aus dem Fenster in der Toskana.

Akribisch gemalt.

Eine unglaublich metikulöse Malerei. Das ist keine pseudogeniale Künstler- Peinture. Robert Gernhardt ist außerdem einer der wichtigsten Kunsttheoretiker gegenwärtig. Aber das hat das Kunstpublikum noch nicht bemerkt. Ganz ohne kulturkritische Aufgeregtheiten zählt er zu den scharfen Kritikern des gegenwärtigen Kunstbetriebs.

Kritisch gegen was?

Gegen die Maßstabslosigkeit, Unhandwerklichkeit, Beliebigkeit, gegen die Weigerung, Bilder herzustellen.

Lassen Sie uns zum Schluss noch über die verschiedentlich vorgebrachte Vermutung Ihrer Mitautorschaft an dem Buch „Manieren“ sprechen. Sie sind mit dem Autor Prinz Asserate befreundet?

Und das seit langem. Wir sind seit dreißig Jahren in ständigem Gespräch; ich schildere ihm, was mich beschäftigt, und er lässt mich an seinen Gedanken teilnehmen. Asfa-Wossen Asserate ist mein ältester Freund in Frankfurt, seit wir uns 1971 in Königstein auf einem Fest kennen gelernt haben. Nein, was ich dazu zu sagen habe, habe ich gesagt. Ich frage mich allerdings, wer – ganz generell möchte ich das gerne wissen – ein Recht darauf hat, zu erfahren, wie ein Werk zustande gekommen ist, wenn zwischen dem Autor und den Personen, die ihm geholfen haben, über diesen Ablauf vollkommene Einigkeit besteht. Wo ist das Problem?

Es geht um die Archäologie von Ideen, wenn da etwa ein Name wie Dávila …

Den können Sie bei vielen Autoren finden, von Wolfgang Hilbig bis zu Robert Spaemann und Botho Strauß. Chesterton, Doderer, das sind in gebildeten Leserkreisen urvertraute, feste Größen. Es wäre geradezu lächerlich, wenn ich auf diese Autoren auch nur den leisesten Anspruch erheben würde. Das Ganze erinnert mich an eine Spurensuche nach dem Prinzip Amazon, wo Sie, wenn Sie ein Buch bestellen, mit dem Bescheid beglückt werden „Käufer dieses Buches haben auch das Buch XY bestellt“. Da entsteht dann so ein Profil.

Haben Sie nie daran gedacht, bei diesem Buch in doppelter Autorschaft anzutreten?

Nein, nein, ein Mitautor bin ich nicht! Ich kenne den Unterschied zwischen Mitautor und Lektor, weil ich bei meiner Entwicklung als Schriftsteller von Lektoren sehr viel profitiert habe, zuletzt noch im Aufbau Verlag von Frau Dr. Drescher, noch aus dem alten DDR-Personal des Hauses, wahrscheinlich eine der besten Lektorinnen in Deutschland.

Was zeichnet einen guten Lektor aus?

Jeden einzelnen Satz des Buches mit einer gewissen verständnislosen Feindseligkeit anzuschauen und sich zunächst in keiner Weise davon leiten zu lassen, dass man hier zusammen mit jemandem etwas erarbeiten will.

Und solch ein Lektorat haben Sie den „Manieren“ angedeihen lassen?

Ich habe mich in der Welt dazu verbindlich geäußert und möchte mir diese Diskussion von niemandem mehr aufnötigen lassen, auch weil ich sie als prinzipiell unstatthaft empfunden habe. Zumal die Dame, die damit begonnen hat, offenbar selber ein Manieren-Buch in der Schublade hatte. Das scheint allgemein bekannt zu sein. Das ist ja das Traurige, dass Asserates Buch vor allem unter diesem vollkommen oberflächlichen Gesichtspunkt der Autorschaft diskutiert wurde und nicht nach seinem Inhalt.

Sloterdijk hat diese Art Diskussionspolitik der Medien einmal mit einer Erregungschoreografie verglichen, die für ein Kollektiv identitätsstiftend wirke. Die Gemüter werden medial in Wallung gebracht und dabei zugleich synchronisiert – so lange, bis sich die Vibration verbraucht. Dann muss ein neues Skandalon her. So wie es ausschaut, ist diese Rolle anschließend der Thor-Kunkel-Affäre zugefallen. Was zugleich die „Manieren“-Diskussion beendet hat. Oder möchten Sie noch ein Schlusswort sprechen?

Nein. Das war dann die Staffelübergabe sozusagen.

NIKE BREYER, 48, lebt als freie Autorin in Marburg / Lahn. Demnächst mehr von ihr – über das emanzipatorische Potenzial des Casual Looks am Beispiel des Sioux-Mokassins