Bush auf die Palme bringen

Der Hauptpreis der Filmfestspiele geht an Michael Moore – für eine Mischung aus Propaganda, Verschwörungstheorie und Dokumentarfilm

Die Methoden des Agitprop reichen nicht aus: Einen Denkprozess regt dieses linke Infotainment nicht an

VON CRISTINA NORD

„Nach dem Zeichentrick- (‚Shrek‘) und dem Dokumentarfilm (‚Mondovino‘) ist nun ein neues Genre in den Wettbewerb eingetreten: die Wahlkampfpropaganda.“ So stand es in Le Monde, nachdem Michael Moores Film „Fahrenheit 9/11“ am vergangenen Montag im Palais du Festival gezeigt worden war. Moores Film kenne nur ein Ziel: George W. Bush aus dem Weißen Haus zu jagen. Die Jury – den Vorsitz hatte in diesem Jahr Quentin Tarantino inne – dankte es dem beleibten Regisseur und Buchautor aus der Stadt Flint im Bundesstaat Michigan, indem sie ihm am Samstagabend die Goldene Palme verlieh.

Auf den ersten Blick ist dies erstaunlich: Warum geht der Hauptpreis der 57. Filmfestspiele von Cannes an eine Mischung aus Propaganda, Verschwörungstheorie, Essayfilm und Dokumentation, wenn sich doch einige herausragende Spielfilme anboten? Auf den zweiten Blick indes liegt die Entscheidung nahe. Moore nahm schon einmal am Wettbewerb von Cannes teil. Vor zwei Jahren zeigte er „Bowling for Columbine“, damals erhielt er einen für ihn entworfenen Spezialpreis. Dies zu wiederholen, wäre insofern befremdlich gewesen, als man für zukünftige Festivals gleich die Kategorie „Silberner Moore“ hätte einführen können. Ein Darstellerpreis wiederum kam nicht in Frage, hätte der doch an George W. Bush gehen müssen, und auch der Regiepreis empfahl sich nicht, da Moore nur etwa ein Drittel von „Fahrenheit 9/11“ selbst drehte und den Rest von Nachrichtensendern, von embedded journalists, aus Spielfilmen und aus TV-Serien bezog. Angesichts der Auseinandersetzungen zwischen Disney und Miramax – Disney untersagte der Tochterfirma, „Fahrenheit 9/11“ zu verleihen – und angesichts des Skandals von Abu Ghraib wäre es jedoch nicht minder befremdlich gewesen, Moore keinen Preis zu verleihen.

Da traf es sich gut, dass alle anderen Filme entweder für den exzentrischen Geschmack zu konventionell (in diese Kategorie fiele zum Beispiel Walter Salles „Diarios de motocicleta“) oder aber für den konventionellen Geschmack zu exzentrisch (in diese Kategorie fiele Apichatpong Weerasethakuls „Tropical Malady“) waren. Vor diesem Hintergrund bildet Moores Frontalangriff gegen den US-amerikanischen Präsidenten den Nenner, auf den sich die Mitglieder der Jury einigen konnten. Dabei hat Le Monde Recht: Moores Film tritt an, das US-amerikanische Volk gegen einen unfähigen Präsidenten zu verteidigen, und zu diesem Zweck ist ihm kein Mittel zu schade. Er filmt die Tränen in den Augen der Soldatenmutter, er schneidet die Bilder sich unbeobachtet fühlender Politiker aneinander, bis diese Politiker desavouriert sind, er entfacht einen Wirbelsturm aus selektiven Informationen, in dem Bushs Amtszeit als eine langer Tanz von Fehlern, Verstrickungen und Skandalen erscheint. Seltener als in „Bowling for Columbine“ schaltet sich der Regisseur selbst ein, um eine Situation zuszuspitzen. Häufiger greift er auf Archivmaterial zurück, das er in der Montage so zusammenfügt, wie es seinen Thesen zupass kommt. Dabei bietet „Fahrenheit 9/11“ wenig, was man noch nicht kennt.

Zu diesem Wenigen zählen die Aufnahmen aus der Grundschule, in der Bush zu Besuch war, als die Flugzeuge ins World Trade Center einschlugen. Man sieht, wie ihm ein Berater etwas ins Ohr flüstert und wie Bush sitzen bleibt, auf seinem Schoß ein Kinderbuch. Er beginnt darin zu blättern, an der Wand hinter ihm hängt eine Tafel, auf der „Reading makes a country great“ steht. Erst ein paar Minuten später – der Berater ist ein zweites Mal auf Bush zugegangen – reagiert der Präsident der USA.

Aber ist es genug, Bush als Dummerchen zu präsentieren? Und ist es nicht ein Zeichen allzu klebrigen Patriotismus, wenn sich Moore im Anschluss zum Sprachrohr des kleinen Soldaten macht? Natürlich ist es interessant, zu verfolgen, woher die Männer und Frauen stammen, die jetzt im Irak eingesetzt werden: aus jenen Schichten, in die hineingeboren zu sein in den USA bedeutet, keine Aussicht auf Ausbildung und damit auf etwas anderes als einen McJob zu haben. Es ist nicht minder interessant zu sehen, wie frustriert diese jungen Menschen sind und wie wenig von dieser Frustration in unseren Nachrichtensendungen zu spüren ist.

Am Kern des Problems aber geht „Fahrenheit 9/11“ vorbei, da er zu den Menschenrechtsverletzungen und zur Folter schweigt. Zwar gibt es einmal eine Aufnahme von US-Soldaten, die einem irakischen Häftling einen Sack über den Kopf stülpen und sich dann ablichten lassen wie Jäger neben ihrer Beute. Doch anstatt an dieser Stelle nachzuhaken, widmet sich Moore rasch wieder der misslichen Lage der US-amerikanischen Soldaten. Jean-Luc Godard übernahm in Cannes die Rolle desjenigen, der darauf hinwies. Moore, so Godard während der Pressekonferenz zu seinem eigenen Film „Notre Musique“, helfe Bush, anstatt ihm zu schaden. Die Methoden des Agitprop reichen eben nicht aus, um eine filmische Reflexion zu entfachen, erst recht nicht, wenn sie Agitpop werden. Einen Denkprozess regt dieses linke Infotainment nicht an.

Und mag ein Film wie „Fahrenheit 9/11“ in einem Land mit relativ gleichgeschalteten Medien eine gewisse Berechtigung haben, so dient er in Frankreich oder hierzulande vor allem dazu, eigene Ressentiments zu bestätigen. Zugleich ist die Juryentscheidung symptomatisch dafür, dass das Verhältnis zwischen Cannes und Hollwood von besonderer Natur ist. Jahr für Jahr kommt es zwischen den beiden Systemen zu unproduktiven Spiegelfechtereien, zu einem Zirkus aus Anbiederung und Ablehnung. Im letzten Jahr witterten die Abgesandten Hollywoods Antiamerikanismus allerorten – zum Beispiel in Lars von Triers „Dogville“. In diesem Jahr nun freute sich das US-amerikanische Branchenblatt Variety mit der Arroganz eines Lehrmeisters, weil der in Cannes für die Filmauswahl verantwortliche Thierry Frémaux seine Hausaufgaben gemacht hat: Im Wettbewerb liefen wenige französische Filme, dafür gab es viele große US-amerikanische Produktionen im offiziellen Programm.

Ein Darstellerpreis war nicht drin: Er hätte fairerweise an George W. Bush gehen müssen

Dabei wiederum handelte es sich vornehmlich um Filme, die dem Festival nicht gut zu Gesicht standen, da sie alles andere als neu waren: „Troja“, „Dawn of the Dead“, „Kill Bill Vol. 2“ und „The Ladykillers“ sind in den USA und teils auch in Europa schon angelaufen. Im Gegenzug erfreute sich Frémaux an der List, den US-amerikanischen Dokumentarfilm „Mondovino“, eine Liebeserklärung an französische Klein- und eine Ohrfeige gegen kalifornische Großwinzer, in letzter Sekunde in den Wettbewerb aufzunehmen.

Jenseits solcher Reflexe gibt es einen großen Grund zur Freude: Viele starke, asiatische Filme waren in diesem Jahr an der Croisette zu sehen, und die Jury wusste dies mit einer Reihe von Preisen zu würdigen. Unter anderem vergab sie ihren Großen Preis an Park Chan-Wooks „Old Boy“, eine koreanische Produktion, die den Thriller der ersten Filmhälfte bildgewaltig und blutig in eine griechische Tragödie überführte. Die schönste Nachricht indes ist, dass der junge thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul nicht leer ausging: Sein rätselhafter und zugleich betörend schöner Film „Sud Pralad“ („Tropical Malady“) erhielt einen Preis der Jury. Damit wird eine Kinematografie gewürdigt, die sich von Formeln der senil gewordenen auteurs genauso weit entfernt hat wie von den simplen Strickmustern des Unterhaltungskinos. Indem Weerasethakul sichtbar macht, was an Bildern bleibt, wenn man die Augen schließt, schafft er einen hypnotisierenden Film.

Die Tage, in denen das Kino visuelles Leitmedium war, mögen längst vorbei sein. Fernsehen, Video und computergenerierte Bilder mögen ihm den Rang abgelaufen haben. „Sud Pralad“ aber beschreibt einen Weg, wie sich das Kino erneuern kann.