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Von der Möglichkeit eines globalen Bildatlas bis zu Ikonen, die zu propagandistischen Waffen wurden: Eine Tagung in Berlin spürte den Wanderungen von Bildern zwischen den Kulturen nach

Bilder sind oft in Diskurse eingebettet, die wirnicht sehen können

VON JAN-HENDRIK WULF

Mit dem Song „Eins von diesen Dingen hier ist nicht wie die anderen“ setzte die Sesamstraße im Kinderprogramm der Siebzigerjahre pädagogische Maßstäbe. Doch mit der medialen Kompetenzvermittlung der Muppets – der unbeschwerten Klassifizierbarkeit der im Fernsehbild aufgereihten Gegenstände nach ihren sichtbaren Eigenschaften – ist es spätestens seit dem 11. September 2001 vorbei: Kurz nach den Anschlägen tauchte aus der Bilderflut der Agenturen das Foto einer Pro-Bin-Laden-Demonstration in Bangladesch auf – und völlig unverhofft erschien auf einem Protestposter neben dem bärtigen Erzterroristen das griesgrämig gelbe Konterfei von Bert. Ganz eindeutig ist der Muppet anders als die anderen, aber daran knüpft sich bereits eine neue Frage: Was hatte er dort überhaupt zu suchen?

Ist das von den Agenturen Reuters und AP verbreitete Bild eine Fälschung, ein Scherz, eine geheime Botschaft von al-Qaida – oder nur das Versehen eines islamistischen Foto-Shop-Bastlers? Ganz offenkundig handelt es sich bei dieser rätselhaften Anleihe islamistischer Sympathisanten beim amerikanischen Kinderfernsehen um eine transkulturelle Bildwanderung. Das von der Berliner Kunsthistorikerin Lydia Haustein geleitete Forschungsprojekt „Ikonen des globalen Bildverkehrs“ durchforstet seit 2001 die Bilder und Szenarien multimedialer Räume, um in gedanklicher Fortführung von Aby Warburgs unvollendetem Mnemosyne-Bildatlas aus den 20er-Jahren einen digitalen Atlas des globalen Bildgedächtnisses zu erstellen. Eine erste Arbeitsfassung dieses Vorhabens wurde am Wochenende auf der Konferenz „Global Icons – Inszenierung kultureller Identität in den Medien“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt vorgestellt.

Vor dem lebensgroß eingeblendeten Dia eines im Abu-Ghraib-Gefängnis von amerikanischen Soldaten gefolterten Irakers beschreibt Haustein ihr Vorhaben: „Mir ging es schon in der Konzipierung des Projekts viel weniger darum, Bilder zu sammeln, als den Begleitumstand transkultureller Ikonografisierung zu begreifen. Wir brauchen eine starke Bilderkompetenz, eine Fähigkeit, analytisch mit Bildmaterial umzugehen.“ Die methodischen Grenzen ihres Faches möchte sie angesichts der transkulturellen Omnipräsenz medialer Bilder interdisziplinär und interkulturell erweitert wissen: „Die alten kunsthistorischen Faktoren greifen nicht mehr. Die ganze Sicherheit der Bilder schwimmt uns weg.“

So geht es bei Hausteins Vorhaben eher um die Markierung der kulturellen Zwischenräume in einer organisch verflochtenen Ordnungsstruktur der Bilder: Die von ihr bislang gesammelten 2.000 Ikonen sind durch 50.000 Verweise miteinander verknüpft: Umstandslos gelangt man hier von der Silhouette einer Teufelsmaske, die in einem Schnappschuss der Rauchsäule des WTC eingefangen wurde, durch einen Mausklick zum Turiner Grabtuch.

Bei der Auswahl der Bilder ging es Haustein um die mögliche emotionale Wirkung, die Warburg als „Bildmagie“ bezeichnet hatte. Die Ikone bezeichnet hier den Kern eines visuellen Motivs, das unvorhergesehen zu verschiedenen Zeit und an unterschiedlichen Orten aus dem kulturellen Gedächtnis auftaucht. Der Atlas unternimmt die Suche nach dem roten Faden zwischen beiden Formen des Erscheinens, und dabei sollen Bildwanderungen sichtbar werden, die mit traditionellen kunsthistorischen Theorien kaum je erfasst werden.

Solche Bildstrecken kennzeichneten auch die Mehrzahl der weiteren 18 Vorträge auf der Konferenz – so als sei es schon ein Mittel der Distanzierung von der Wirkmächtigkeit der Bilder, sie überhaupt einmal in den räumlichen Kontext wissenschaftlicher Betrachtung zu rücken.

Angesichts der Wirkmächtigkeit global zirkulierender Bilder wie die der einstürzenden Twin Towers scheint der ursprünglich religiös besetzte Begriff der Ikone gut gewählt. Denn die Ikone ist nicht nur traditionell schon ein transportables Sinnbild, sondern steht für mehr, als dem distanzierten Auge des Betrachters sichtbar wird: In der suggestiven Wirkung dieser Bilder gibt es also eine unverstandene Leerstelle. „Die Ikone ist eine mysteriöse Anwesenheit, die Macht ausdrückt, die ein Rätsel ist, ein Ort, wo Symbole eindeutig werden“, beschreibt das der Heidelberger Ethnologe Klaus Peter Köpping in seinem Vortrag.

Im ursprünglich religiösen Verständnis der byzantinischen Kirche ist „das Eigentliche“ der Ikone nicht von Menschenhand gemacht, sondern göttlichen Ursprungs. Um diese Wirkungsweise zu ermessen, bedarf es der Einlassung, die aber zugleich im areligiösen Kontext der Konferenz wieder Unbehagen erzeugt. Man will ja nicht, so Haustein, „in den Kniefall der Adoration verfallen“; natürlich bestand auf der Tagung weitgehend Einigkeit, dass es sich bei den modernen Ikonen eben doch um sehr menschliche Produkte handelt. „Je profaner die Welt ist, umso mehr Kultfiguren gibt es.“

So zeichnet die Bonner Kunsthistorikerin Anne-Marie Bonnet die Stationen nach, auf denen Marilyn Monroe zu einer weiblichen Ikone des 20. Jahrhunderts geworden ist: „Das Porträt erscheint so mechanisch, dass es nicht mehr menschgemacht erscheint.“ Doch Bonnets Urteil ist wohl eher vernichtend gemeint: „Ikonen haben immer eine ganz spezifische Funktion. Für mich ist die Ikone ein Placebo, schließlich geht es darum, vorhandene Bedürfnisse, Sehnsüchte zu kontrollieren, zu formalisieren, kanalisieren und auf ein Projektionsobjekt einzufrieren. Das ist eine Entseelung.“ Wirksam ist diese westliche Ikone auch im transkulturellen Bereich geworden: Bonnet verweist auf die Arbeiten des als Monroe posierenden japanischen Fotokünstlers Yasumasa Morimura.

Doch wie genau solche westlichen Ikonen in nichtwestlichen Kulturen funktionieren, will Bonnet aus ihrem Deutungshorizont heraus nicht bestimmen. Die vollständige globale Wirkung der Ikone ist aus ihrem kulturellen Kontext heraus nicht spürbar.

Seit dem 11. September schwimmt unsdie Sicherheitder Bilder weg

Daran anschließend beschreibt der Heidelberger Ethnologe Klaus Peter Köpping die Ikonen nationaler Identitätsbildung als Institutionalisierungen mit kommunikativer Kraft, als eine Aktivität der Bedeutungsproduktion, als eine Art, die Welt einzuordnen. Darin liegt eine Problematik globaler Ikonen: Nationale Identitätsbildung findet nicht über Diskurse, sondern über Bilder und Ikonen statt – „aber Bilder sind oft in Diskurse eingebettet, die wir nicht sehen“, wie Köpping an den Ritualen der traditionellen japanischen Shinto-Religion zeigt. Das Unsichtbare bleibt hier verborgen, die Leerstellen werden körperlich ausagiert. Bei den globalen Ikonen nationaler Identität kann es für Köpping daher nur regionale Interpretationshoheiten geben.

Der Karlsruher Medientheoretiker Boris Groys sieht dagegen eher Zeichen einer Konvergenz globaler Wahrnehmungsweisen. Islamische Weltregionen christianisieren sich, wenn sie sich – wie beim Attentat auf das World Trade Center – des ikonoklastischen Gestus bedienen, um nach den Gesetzen der westlichen Medien Ikonen zu erzeugen: „Interessant sind Bilder der Zerstörung.“ Nicht dass Groys deswegen ein gutes Haar an diesen Ikonen ließe: „Eine Ikone ist eine ideologische propagandistische Waffe, die nach ihrer Effektivität beurteilt werden soll.“ Doch in einer für Groys komplett durchmedialisierten Welt nimmt inzwischen jeder Mensch die alles überblickende Beobachtersituation eines kontemplativen Gottes ein: „Heute beginnen wir mit einem Überblick, ohne überhaupt etwas von den realen Zusammenhängen zu wissen.“

Moderne Ikonen produziert man durch Bilder, die man nicht kritisieren kann, weil sie keine Wirklichkeit haben. Man könne sich dazu, so Groys, nur religiös oder politisch, nicht aber wissenschaftlich verhalten. Die möglichen Wege aus der Wahrnehmungsfalle der zu Ikonen politisierten Bilder weist aber vielleicht die Kunst: Einen sogar heiteren Ausweg aus dem ikonischen Wandern der Twin-Tower-Bilder zwischen den erstarrten politischen Lagern verspricht der Beitrag von Frank Thorsten Moll. Laut Moll soll ihn die Installation „Anti-Terror Variety“ (2002) des chinesischen Videokünstlers Chen Shaoxiong bieten: Flugzeuge nähern sich einer Hochhausskyline, und während sich das Szenario des Aufpralls schon im Kopf des Betrachters abspielt (ob nun befürchtet oder klammheimlich herbeigesehnt), vollführen die Hochhäuser die unmöglichsten Ausweichmanöver – eine mögliche Desensibilisierungsstrategie und Rückeroberung der vom Politischen besetzten Bilder durch die Kunst. Gegen reale Anschläge wird das allerdings kaum helfen.

Da das Wirksame der Ikonen unsichtbar bleibt, musste die Realität sowieso auf der Konferenz eine Leerstelle bleiben. Weitgehend unsichtbar wird wohl leider auch Hausteins digitaler Atlas bleiben: Aufgrund von Urheberrechten wird seine Nutzung nur zu wissenschaftlichen Zwecken möglich sein.