Vom Erwachen an unerwarteten Orten

Auf Traumpfaden zur Grenze wandeln: In dem Film „South of the Clouds“ porträtiert Regisseur Zhu Wen einen Mann, der 40 Jahre lang von einem schönen Leben nur geträumt hat und darüber alt geworden ist. Nun macht er sich doch noch einmal auf, ein anderes Leben auszuprobieren

VON DIETMAR KAMMERER

Was wäre, wenn …? Ein Gefängnis ein Hotelzimmer wäre? Eine Entscheidung rückgängig gemacht werden könnte? Ein Leben anders verlaufen wäre? Warum er diesen Film machen musste, erläutert Regisseur Zhu Wen wie folgt: „Wenn man sich für eine bestimmte Lebensweise entschließt, entscheidet man sich zugleich gegen eine andere. Diese Tatsache hat mich immer fasziniert: Das eine Leben ist die Tatsache, das andere bleibt ein Traum. Ich möchte gern die Geschichte eines unmöglichen Lebens erzählen.“ In seinem Film „South of the Clouds“ hat er das nun getan.

Seit Xu Daqin (Li Xuejian) in Rente ist, wünscht er sich nichts sehnlicher, als einmal die weit entfernte Provinz Yunnan zu besuchen. Sein Leben lang hat er in der Fabrik gearbeitet, jetzt bleibt ihm als Pensionär nur die Freiheit des Zeittotschlagens. Ein ehemaliger Arbeitskollege jagt ihn mit der Trillerpfeife und eigenwilligen Gymnastikübungen aus der Bequemlichkeit des Fernsehsessels, aber eigentlich will Xu nicht joggen, sondern viel weiter weg, in den Süden Chinas, wo er als junger Arbeiter beinahe einmal hin versetzt worden wäre. Bloß einmal nachschauen, ausprobieren, wie das ausgesehen hätte, das andere Leben, das nur durch einen Zufall verhindert worden ist.

Seine beiden erwachsenen Töchter verstehen nicht, warum er die anstrengende Reise um jeden Preis unternehmen will, und Xu schweigt sich über seine Gründe aus. Der Weg vom Norden in den Süden Chinas, vom Stadt aufs Land, von der Moderne zur Tradition, wird für Xu zur Suche nach dem Leben, das er nicht geführt hat, das er nur träumend nachvollziehen kann. Gegen Ende des Films wird Xu sagen: „Ich träumte von einem schönen Leben. So habe ich vierzig Jahre verbracht.“ Dieses Eingeständnis bringt ihn dem Paradies nicht näher, wohl aber einer Erkenntnis: Ein Hotelzimmer kann ein Gefängnis sein, aber das Glück findet sich an den unerwartetsten Orten.

Zhu Wen ist Jahrgang 1967, ein junger Regisseur, aber ihm gelingt das wundervoll eindringliche Porträt eines alten Mannes, der sich mit beharrlicher Sturheit aufmacht, einem Traum zu folgen. Der Filmemacher gibt zu, dass er mit „South of the Clouds“ selbst einen Irrtum wieder gutmachen wollte. „Ich wollte einen Film über die Generation meiner Eltern drehen. Sie haben, ohne jemals zu klagen, in einer unnormalen Zeit gelebt und geradezu surreale Genügsamkeit an den Tag gelegt. Irgendwann war ich alt genug, um diese Generation zu verstehen. Heute tut es mir Leid, dass ich sie früher missverstanden und allein gelassen habe.“

Dieses Nichtverstehen der Generationen spiegelt sich im Film in Xus Verhältnis zu seiner jüngeren Tochter. Die ist Fitnesstrainerin und will sich selbstständig machen, verirrt sich beim Versuch der Existenzgründung trotz väterlicher Warnungen jedoch ins Bett des potenziellen Geldgebers. Auch die Jugend hat Träume, die nicht immer in Erfüllung gehen.

Für den Gegensatz zwischen Moderne und Tradition im heutigen China findet der Film augenfällige Bilder. Die Silhouette von Xus Heimatstadt im Norden wird dominiert von Monumenten der industriellen Moderne, halbfertige Brücken und Kühltürme, riesig im Vergleich zu den Menschen, die in ihrem Schatten leben und arbeiten. Der Süden hingegen fungiert als Signum des anderen Lebens, all dessen, was nicht nur Xu hätte sein können, sondern China selbst. Yunnan liegt im südwestlichsten Zipfel des Landes, an der Grenze zu Tibet, und ist in den westlichen Medien weitgehend für zweierlei bekannt: schwere Erdbeben und regen Drogenhandel, besonders mit Opium und Heroin. „South of the Clouds“ zeigt das andere Gesicht dieser Gegend, in deren Flusstälern, Bergen und Urwäldern mehr verschiedene Ethnien und Kulturen zu finden sind, als irgendwo sonst in China. Es ist die Heimat des Mosuo-Volkes, das in alter Tradition immer noch nach den Bräuchen des Matriarchats lebt.

Der Dorfvorstand, den Xu dort trifft, erklärt ihm die Voraussetzungen, unter denen er bleiben darf: nicht zu arbeiten und sich keine Sorgen zu machen. Das sind präzise die Bedingungen eines Traums, und folgerichtig wacht Xu wieder in seinem Hotelzimmer auf. Die Geschichte eines unmöglichen Lebens: Auch in Yunnan wird ein unglücklicher Umstand Xu an einen Ort binden. Er versucht zu fliegen, aber er tanzt nur im Kreis und bewegt rührend hilflos die Arme. Doch Xu lächelt nun dabei. Er weiß, dass er kein Kranich ist, und er weiß, dass er sein Paradies dennoch gefunden hat.

„South of the Clouds“ (Yun de nan fang). China 2004. Regie, Buch: Zhu Wen. Mit Li Xuejian, Liu Changsheng