Porträt einer Antifaschistin

Die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano hat zusammen mit der Journalistin Birgit Gärtner ihre Lebensgeschichte erzählt

Von Marco Carini

Es war Dirk Nockemann, damals noch Hamburger Innensenator, der das Konzept der Autorinnen durchkreuzte. Als am 31. Januar 2004 in seiner Regie die Demonstration gegen den Anti-Wehrmachtsausstellungs-Aufmarsch neofaschistischer Gruppen zerschlagen wurde, saß die 79-jährige Esther Bejarano im Lautsprecherwagen, der minutenlang von polizeilichen Wasserwerfern beschossen wurde.

Vor dem Hochdruckstrahl nur durch die Windschutzscheibe geschützt, panisch vor Angst, dass diese zerbersten könnte, musste die Auschwitz-Überlebende mit ansehen, wie Schlagstockhiebe auf die antifachistischen KundgebungsteilnehmerInnen niedergingen. Eine Erfahrung, so empörend und beängstigend, dass sie als Schlussakkord an Bejaranos Lebensgeschichte angefügt werden musste, die Bejarano und ihre Co-Autorin Birgit Gärtner nur bis zum Herbst 2003 erzählen wollten.

4-1-9-4-8: Diese fünf Zahlen wurden der 18-jährigen Esther Loewy in den Arm tätowiert, als unauslöschliches Zeichen der größten Mordfabrik der Menschheitsgeschichte. Einer Mordfabrik, der die junge Jüdin nur entkam, weil sie ausgewählt wurde, im Mädchenorchester des KZ Mithäftlinge musikalisch auf dem Weg ins Gas zu begleiten.

Als Akkordeonspielerin gebraucht, besaß sie das makabere Privileg, eine Randfunktion in dem Vernichtungsapparat zugeteilt bekommen zu haben und deshalb weiter existieren zu dürfen. Trotz schwerer Krankheiten überlebte sie die Hölle Auschwitz. Dass sie eine nichtjüdische Großmutter vorweisen konnte, führte später zur Verlegung nach Ravensbrück, wo sie bis zu ihrer Befreiung als Zwangsarbeiterin für Siemens ausgebeutet wurde.

Das jüngst erschienene Buch Wir leben trotzdem, aus dem beide Autorinnen morgen lesen, erzählt das Leben und Überleben der 1924 im Saarland geborenen Jüdin Esther Bejarano, die heute eine der bekanntesten und engagiertesten Holocaust-Überlebenden Hamburgs ist. Es erzählt ihren Weg von Deutschland nach Israel – dass sie dieses Land 1960 auch aus Frustration über dessen aggressive Okkupationspolitik wieder verlässt, um zurück nach Deutschland zu gehen. Es erzählt die Geschichte vom Vergessen-Wollen, Nicht-Verdrängen-Können und Verarbeiten-Müssen. Eine innere Notwendigkeit, die dazu führte, dass Bejarano 1986 das Auschwitz-Komitee der Bundesrepublik mitbegründete.

Die Lebensreise Esther Bejaranos ist eine Geschichte, die aufgeschrieben werden musste: als Mosaikstein eines notwendigen Erinnerns. Dass es aber kaum eine angemessene Form gibt, das Grauen von Auschwitz sichtbar zu machen und die Schatten, die dieses Morduniversum noch immer wirft, zwischen zwei Buchdeckel zu pressen, wird bei der Lektüre von Wir leben trotzdem wiederholt augenfällig.

Der Nähe Birgit Gärtners zu Bejarano, von der im Buch nur als „Esther“ die Rede ist, steht eine irritierende Distanz zum Geschehen gegenüber. Der Erzählstil Gärtners erzeugt so viel Abstand, dass nichts von dem Grauen wirklich spürbar wird, dass sich die innere Entwicklung Bejaranos kaum erschließt. Freunde und Feinde, die Bejaranos Lebensweg gekreuzt haben, bleiben bis auf wenige Ausnahmen konturlos. Damit entgeht die Lebensgeschichte – eine Mixtur aus Biographie und Autobiographie – zwar der Gefahr, zu suggerieren, der Schrecken Auschwitz und die Last seiner Verarbeitung sei – etwa durch Pathos – durch Worte annähernd sichtbar zu machen, doch das geschieht um einen hohen Preis. Zwischen das Erzählte und die LeserInnen legt sich immer wieder eine dichte Nebelwand.

Die Vielschichtigkeit, den dieses Leben in dieser Zeit bereithält, bekommen die Autorinnen nicht immer in den Griff. Geschichtsexkurse wechseln mit Erinnerungen Bejaranos, oft nur dadurch verklammert, dass Bejarano pflichtschuldigst als Individuum in das historische Panorama hineinmontiert wird. Das mehr als 250 Seiten umfassende Buch liest sich oft sperrig, aber diese Sperrigkeit ist nicht dem Thema geschuldet. Es handelt sich vielmehr um ein stilistisches Defizit.

Vor Auschwitz versagt die Sprache. Sie tut es auch hier.

Esther Bejarano/Birgit Gärtner: „Wir leben trotzdem“, Bonn 2004; 262 S., 19,90 Euro. Lesung: morgen, 19.30 Uhr, Buchhandlung Christiansen (Bahrenfelder Str. 79)