Zum Arzt nur in Begleitung von Polizisten

Die chinesische Philosophin Ding Zilin, die für eine Aufklärung des Tiananmen-Massakers kämpft, steht unter Arrest

PEKING taz ■ Das Telefon klingelte kurz vor neun. „Sie stehen ab sofort unter Hausarrest“, sagte ein Beamter der Pekinger Staatssicherheitsbehörde und teilte die Regeln mit: Ausgang nur zum Einkaufen im Lebensmittelladen vor der Tür, Arztbesuch nur in Begleitung der Sicherheitspolizei. Ding Zilin ist empört. „Ich sehe vier Polizisten vor meiner Haustür, die mich rund um die Uhr bewachen. Wie kann so etwas in unserem Land passieren?“, schimpft die 68-jährige ehemalige Philosophieprofessorin, die gestern eigentlich mit der taz zum Interview verabredet ist. Doch seit Dienstag kommt ihr der Hausarrest dazwischen.

Das ist zu diesem Zeitpunkt nicht überraschend. In der kommenden Woche jährt sich zum 15. Mal die blutige Niederschlagung der Pekinger Studentenrevolte vom 4. Juni 1989. Wer in China die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag heute noch pflegt, der kennt auch Ding Zilin.

Sie ist die Mutter des damals 17-jährigen Jiang Jielian, der in jener Nacht, als die Volksarmee mit Panzern über Pekings Tiananmen-Platz rollte, von der Gewehrkugel eines Soldaten getötet wird. „Was ich auch tue, ich kann ihn nicht wiederbeleben“, berichtet Ding am Telefon. Dennoch hat sie das Schicksal nicht zur Untätigkeit verdammt. „Was die anderen Angehörigen der Opfer und ich verlangen, ist eine Aufklärung der Geschehnisse im Rahmen des Gesetzes, auf friedliche und vernünftige Art und Weise.“

Sie stellt diese Forderung seit dem Totenfest im April 1991, ihrem Coming-out als so genannte „Tiananmen-Mutter.“ Aussicht auf einen Erfolg ihrer Klage gibt es bis heute nicht. Aber das ändert nichts an Dings Hartnäckigkeit. „Die Menschen werden mit dem Recht auf Leben und dem Recht auf Freiheit geboren“, diktiert Ding. „Auch die Regierungen und ihre Führer haben nicht das Recht, den Menschen willkürlich ihr Leben zu nehmen!“

So lauten die Worte, die ihr regelmäßig die Staatssicherheit vor die Hautür treiben. Im März wurde sie mit zwei anderen „Tiananmen-Müttern“ für einige Tage verhaftet – wegen illegalen Imports von T-Shirts mit dem Logo der Mütterbewegung. „Ich plane zum 4. Juni Briefe an Präsident Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabao zu schreiben“, kündigt Ding an. Nur habe ihr die Staatssicherheit in diesem Jahr verboten, zur Post zu gehen.

Natürlich weiß Ding, dass ihr Adressat nicht die Pekinger Regierung ist. „Man wirft mir vor, dass ich von ausländischen Medien benutzt werde. Aber ich muss einen Weg finden, mich mitzuteilen. So lässt sich auch sagen: Ich nutze die ausländischen Medien.“ So aber ist sie berühmt geblieben, als in Peking verwurzelte, die Zeit überdauernde, authentische Stimme der Revolte.

GEORG BLUME