„Fußball ist Krieg“

… ist ein Satz, der dem Trainer Rinus Michels zugeschrieben wird. Aber trifft er auch zu?

VON KLAUS THEWELEIT

Als Autor der „Männerphantasien“, der sich zum „Körper des soldatischen Mannes“ geäußert hat, bin ich oft gefragt worden, ob Fußball als Männerkampfsport nicht unterm Gesichtspunkt „Körperertüchtigung (verdeckt) soldatischer Männer“ betrachtet werden muss; als eine Art Militärersatz also, dessen unausgesprochenes Ziel immer auch die fortdauernde Militarisierung der Gesellschaft sei, zumindest auf der Ebene fortdauernden Konkurrenz- und Hahnenkampfgehabes. Die Antwort, die in der Regel von mir erwartet wurde, sollte lauten: „Ja, so ist es.“ Um zur Bestätigung „Hab ich doch immer gesagt“ zu führen.

Ganz auszuschließen ist ein solcher Anteil am konkurrierenden Bolzgehabe in der Tat nicht. Die „gewünschte Antwort“ habe ich dennoch eher verweigert. Zwar hat es Trainer gegeben, die Fußball genau unter solchen Gesichtspunkten betrieben haben. Christoph Biermann und Ulrich Fuchs haben in ihrem Buch „Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann“ diese Seite des Spiels zutreffend beschrieben. Ein militärischer oder zumindest martialischer Überhang besonders im „Fußball alter Schule“ war zweifellos gegeben. Und nicht nur im deutschen Fußball.

Der Torhüter Lars Leese, der eine Weile in England gespielt hat, beschreibt in „Der Traumhüter“ die Situation „Kabine“ nach einem Wochenendsieg mit den Worten: „Fußball ist eine Machowelt. Montagmorgens bei uns in der Umkleidekabine hättest du das Guinnessbuch der Rekorde neu schreiben können: jeder war der Größte, jeder hatte am Wochenende 125 Bier getrunken und 99 Frauen weggehauen.“ Das ist sicher eine Form von Krieg; aber eine Form, die heute nicht mehr an erster Stelle gefördert wird, wenn ich mir die Spiel- und Lebensbedingungen in den Fußballinternaten heutiger Profivereine anschaue.

Es gibt andere Tendenzen und Entwicklungen auf den „artistischeren“ Seiten des Spiels, die es nahe legen, Fußball nicht als „Krieg“ zu sehen. Um dies zu beschreiben, braucht man nicht einmal unbedingt die Selbstverständlichkeiten anzuführen, die Kriege von Spielen unterscheiden: den überwachten Kanon des Fair Play, die Anwesenheit von Schiedsrichtern, während der Terror des Krieges prinzipiell schiedsrichterlos läuft.

Was tut Fußball? Er organisiert einen Kampf; Kämpfe um die Herrschaft über ein bestimmtes Stückchen Erde – also genau das, worum Staaten Kriege führen. Er gibt dazu allerdings beiden Parteien ein und dasselbe Spielgerät in die Arena, den Ball. Dieses Spielgerät darf nicht zerstört werden. Sonst wird das Spiel unterbrochen oder abgebrochen. Dies ist der entscheidende Schritt zur unkriegerischen Lösung des angesagten Kampfes. Beide Mannschaften kämpfen auch – ob bewusst oder nicht – für die Unversehrtheit des Balles. Am Grunde des Spiels liegt für alle ihre Liebe zum Ball.

Theo Stemmler schreibt in seiner „Kleinen Geschichte des Fußballspiels“ über Kemari, die japanische frühe Variante des Fußballs: „Es wird in spielerischem Ritual versucht, den Ball (= die Sonne) vor dem Herabfallen (= dem Untergehen) zu bewahren.“ Das hat van Gogh ähnlich gesehen, wenn er Sterne klar als rollende Bälle malt. Spiritualisierte Feuerbälle, die man rotierend in der Luft halten muss. Und: Man ist auf die gegnerische Mannschaft angewiesen, sonst gibt es kein Spiel. Krieg dagegen führen Staaten auch ganz gern gegen nicht vorhandene Gegentruppen.

Wenn so die einen sagen, Fußball militarisiere, kann mit gleichem Recht geantwortet werden, Fußball zivilisiere kriegerische Potenziale. Als Kampfsport ist er in genau dieser Weise ambivalent und kann in seiner Ausübung sowohl in die eine wie in die andere Richtung angelegt werden. Von einem Standpunkt aus, der absolut pazifiertes Körperverhalten als Voraussetzung der Zivilisiertheit ansieht, ist Fußball „brutal“: 22 durchtrainierte Typen ochsen full power aufeinander los, um sich dieses Ding abzujagen. Wenn das zufällig fünf Minuten lang elegant aussieht, reden großspurige Fußballideologen gleich von Tanz und „Ballett“.

So kann man – abschätzig – sprechen. Wer andererseits einen bestimmten Pegel körperlicher Gewalt in der Gesellschaft als gegeben annimmt, der seinen Ausdruck und seine Betätigungsfelder sucht, kann Fußball geradezu als eines der bedeutendsten Mittel benennen, an der Zivilisierung dieser Gewaltpotenziale mitzuwirken. Exakter gesagt: 95 Prozent der Zuschauer in den Stadien bekämpfen Wochenende für Wochenende erfolgreich den eigenen Hooliganismus. Als Möglichkeit liegt er in ihnen wie in den manifesten Hooligans auch. Aber mit Hilfe von Zivilisierungsformeln wie: „Die andern können auch Fußball spielen“ … „Es kann nicht zwei Sieger geben“ … „Es geht nicht immer gerecht zu auf der Welt, aber meistens gleicht sich das aus“ wird das Kriegerische in Spielern wie Zuschauern ständig heruntergefahren. Während „Krieg“ ja heißt, so lange auf den Feind einzuschlagen oder einzuwirken, bis er sich nicht mehr rührt.

Den Spieler, der einem andern einen Knochen bricht, gibt es auch heute; aber damit ist die Grenze der körperlichen Gewalt ziemlich genau bezeichnet. Die Entwicklung des Spiels in friedlichere Richtungen ist dagegen nahezu unbegrenzt. In friedenstiftende Richtungen sogar: Ein Grundschullehrer vor einer Klasse mit deutschen, türkischen, griechischen, kroatischen und portugiesischen Schülern hat kein besseres Mittel, diese auf einer gleichen und gemeinsamen Ebene agieren zu lassen, als ein Fußballspiel.

Fußball spielen sie alle. Der Portugiese mit den Rechtschreibproblemen womöglich besser als sein fehlerloser deutscher Nebenmann. Nirgendwo bekommen der Chilene oder der Türke, die beim Rechnen die Aufgaben nicht verstehen, ihre Anerkennung, ihr „Erfolgserlebnis“ leichter und auch neidloser als beim Kicken. Wer gut spielt, spielt eben gut. Und wer nicht so gut spielt, befindet sich immerhin in einer nachvollziehbaren, von allen Spielern anerkannten sozialen Rangordnung, in der er seine Position verorten kann. Jeder Kick gegen den Ball entfernt die Beteiligten weiter vom ebenso möglichen Schlag auf die Nase des Kontrahenten. Gut – andere Spiele tun das auch, und vielleicht sogar besser. Bloß: Alle spielen Fußball. Schach, Schwimmen, Tennis betreiben nur ein paar.

Die erste grundsätzliche Verschiebung, die auch ein Kampfsport an der Form „Krieg“ vornimmt, ist die Verwandlung von Feinden in Gegner. Gegner mit gleichen Rechten spielen gegeneinander. Die oberste Regel des Spiels sagt, dass die körperliche Unversehrtheit des andern genauso zu schätzen und zu bewahren ist wie die eigene. Das geschieht im Spiel durch die permanente Umwandlung von Vernichtungspotenzialen in spielerische Techniken. Jedes Stückchen Technikzuwachs ist ein Stück Gewaltabbau. Ziel jedes vernünftigen Trainings ist die Erhöhung der technischen Fähigkeiten der Spieler – gepaart mit den notwendigen Kraft-, Ausdauer- und Taktikpotenzialen. Auf der Schiene der Entwicklung der Spieler zu Allroundspielern hat es hier im letzten Jahrzehnt eine Art Quantensprung in der Auffassung vom Fußball gegeben.

Der Trainertyp, der ein, zwei Klopper in seiner Mannschaft extra heranzieht und damit betraut, die filigransten Spieler der Gegenseite aus dem Spiel zu hauen, ist zwar noch nicht ausgestorben, aber er dominiert nicht mehr die Szene. Die Anweisung „Gib ihm auf die Knochen“ kann sich fast niemand mehr leisten, weil sie, spätestens bei Vereinswechseln betreffender Spieler, öffentlich zu werden droht. Und geahndet würde. Es hat, auf Drängen der Vereine und der Spieler, eine Verschiebung in der Regelauslegung zu Gunsten der Techniker gegeben.

Schiedsrichter auf internationaler Ebene – und diese wirkt letztlich normsetzend – sind angewiesen, besonders Attacken schärfer zu ahnden, gegen die ein Spieler sich nicht wehren kann: Grätschen von hinten, Wegtreten der Beine, Hineingehen mit gestrecktem Bein gegen einen Spieler, der seine angesetzte Bewegung nicht mehr bremsen kann. Es gibt die rote Karte auch für Aktionen, die als Verletzungsabsicht auslegbar sind.

Dies hat zu einer grundsätzlichen Zivilisierung des Spiels geführt. Wer dem Techniker bei der Ausübung seines Berufs, das heißt bei der Vorführung seiner überlegenen Kunststücke die Beine wegsenst, ist vom Platzverweis bedroht. Auch wenn man unterstellt, dass diese Verschärfung der Schiedsrichtermittel bei grobem Foulspiel nicht in erster Linie zum Schutz der Spieler entwickelt wurde, sondern im Interesse der Vereine, die es empfindlich trifft, wenn ihre hochgezüchteten Millioneneinkäufe zehn Spiele oder mehr in der Reha verbringen, oder sogar eine ganze Saison, kommt die Regelung doch letztendlich den Spielern zugute. Die Knochen der teuren Stars müssen einsatzfähig bleiben, sie müssen sich amortisieren wie andere Investitionen auch; also müssen die Einkäufe so weit intakt sein, dass sie spielen können.

Auch die Zuschauer kommen wegen der Namen. Große Namen scheinen große Spiele zu garantieren, und manchmal tun sie es tatsächlich. Zumindest grandiose Momente, wie jenes Tor Zinedine Zidanes im Champions-League-Finale 2002. Ein solch grandioser Volley aus achtzehn Metern in den Winkel – ungerecht zwar, denn er stellte den Spielverlauf auf den Kopf. Leverkusen war weit besser als Real und so viel näher am Sieg auch den Chancen nach – aber wenigstens war es kein Beschiss. Es war ein wirklich meisterlicher Schuss, der Madrid den Sieg brachte.

Man muss es halt hinnehmen, dass der Verein verliert, mit dem man gezittert hat. Das ist zwar gemein und gleicht sich meistens nicht wieder aus. Nein, so eine Siegchance für Leverkusen kommt so schnell nicht wieder, vielleicht nie wieder. Hätten sie aber nur dadurch gewonnen, auf Zidane einen Klopper angesetzt zu haben, einen Auftragskiller sozusagen, das wäre noch viel schlimmer gewesen.

Es ist der größte Friedensbeitrag des Fußballs im letzten Jahrzehnt, dass die Sensenspieler verschwinden. Die Spitzenspieler müssen durch technisch ebenso gute Deckungsspieler ausgeschaltet werden. Die Zuschauer erleben ihre Artisten dadurch in der Arena öfter live und quicklebendig; sie bleiben bis zur 95. Minute auf dem Feld und leiten in der 92. noch das entscheidende Tor ein oder schießen es selbst. Niemand sagt heute mehr, dass man nur „über den Kampf“ ins Spiel komme. Höchstens in höchster Not. Wenn man ein paar Mal nacheinander verloren hat. Und die Zuschauer brüllen immer noch gern „Kämpfen, Schalke! Kämpfen“! Aber es lässt nach.

Eine ganz ähnliche Verschiebung der Aggressionspotenziale fiel mir auf in einem Fußballprojekt der Staudinger Gesamtschule in Freiburg, auf die unsere beiden Söhne gegangen sind. Die Schüler, dreißig und mehr Jahre jünger als ich, waren längst nicht so geladen wie die Schüler meiner Generation. Sie brüllten sich weniger an und foulten weniger. Die Pfeife brauchte ich nur selten – was sowieso schwierig war, wenn ich selber mitspielte, also „Partei“ war.

Ihr Verhalten in den schulischen und außerschulischen „Parallelwelten“ fand ich ähnlich angelegt. Man liest immer vom unerträglichen Anstieg allgemeiner Gewalt in „heutigen“ Schülergenerationen; „heutig“ meint dabei von 1970 bis jetzt, eine Dauerklage.

Aus meiner gesamten frühen Schulzeit, also etwa Alter sechs bis vierzehn, erinnere ich ganz anderes: Es gab nicht eine einzige große Pause, in der nicht zwei Typen am Boden lagen und sich schlugen. Die andern drum herum feuerten sie an. Lehrer ruderten mit hochroten Köpfen, um die Streithähne zu trennen. Das war zwar nicht lebensgefährlich, niemand schlug den Kopf des andern aufs Schulhofpflaster, potenziell tötende Gewalt war absolut verpönt; aber die körperliche Auseinandersetzungsform war einfach das Gegebene. Und der Fußball entsprechend ruppig.

Der allgemeine Aggressionspegel heutiger Schülergenerationen scheint mir demgegenüber eher gesunken – abgesehen von Schulen in extremen Konfliktgebieten. Es gibt den Anstieg von Gewalt in bestimmten sozialen Problemzonen und besonders bei verschiedenen Einzeltypen. Wie beim Hooliganismus: allgemeiner Rückgang der Gewalt in den Stadien, dafür eine Verschärfung der Gewaltbereitschaft und schärfere Bewaffnung bei relativ kleinen Einzelgruppen und Einzeltätern.

Ein entsprechender Rückgang offener Aggression fällt auch in Diskussionen zwischen Studenten auf. Das hitzige Übertrumpfungsgerede meiner Generation ist ziemlich out. Man kann heute nach Vorträgen stundenlang mit Studenten an Kneipentischen sitzen, ohne dass jemand einen Streit vom Zaun brechen muss. Alles geht sehr diskursiv und nacheinander zu. Bei meiner Generation war alles sehr gleichzeitig, sehr übertönend, sehr durcheinander und immer an der Grenze verbaler Gewalt.