Tanz der armen Teufel

Auf dem 13. „Wave Gotik Treffen“ in Leipzig fand sich am Wochenende wieder eine verschworene Gemeinde ein, die nichts vereint – bis auf einen diffusen Weltschmerz

VON DANIEL SCHULZ

Gothic ist ein Tanz. Ein Tanz ohne Musik. Denn diese interessiert nicht, solange die Sonne scheint, solange man sehen kann. Es ist ein Tanz der Blicke. Eine rothaarige Frau, nur mit einem Netz bekleidet, zerrt einen kahlköpfigen Mann an einer Kette hinter sich her. Mit erhobenem Kopf läuft sie an zwei Männern in Tarnuniformen und Springerstiefeln vorbei, die sie über ihre Bierflaschen hinweg lüstern anlächeln. Hinter ihnen im Gras sitzt eine Gruppe junger Frauen in ausladend barocken Kleidern. Unter ihren schwarzen Sonnenschirmen betrachten sie aus weiß geschminkten Gesichter die Rothaarige und die Tarnjacken, unbewegt.

Auch beim dreizehnten Mal heißt die Zusammenkunft der Grufties, der Gothics, in Leipzig wieder „Wave Gotik Treffen“. Treffen, nicht Festival. Denn bei dieser Zusammenkunft geht es weniger um Musik oder Bands. Hier vergewissern sich Menschen, die sich selbst zu Außenseitern erklären, dass auch sie zu etwas dazugehören. Es geht um das Sehen und Gesehenwerden.

„Die schönen Menschen sind mit der Hauptgrund, warum ich hier bin“, sagt Anke. Mehr als zehn Stunden ist die Pferdewirtin aus Stuttgart nach Leipzig zum Wave Gotik Treffen gefahren. Sie hat für ihre hohen schwarzen Lederstiefel 100 Euro ausgegeben. Das ist wenig im Vergleich zu den Magiergewändern oder Renaissancekleidern, die bis zu mehreren hundert Euro kosten können. Andere lassen sich Leder- oder Lackanzüge selbst schneidern, ein Berliner will für seinen 600 Euro ausgegeben haben. Das andere Aussehen, der ästhetische Protest und die Farbe Schwarz hält die Szene mehr zusammen, als es das von außen aufgedrückte Prädikat Gothic je könnte. Die Rothaarige mit dem Kahlköpfigen an der Leine ebenso wie den Punk, den als Vampir Verkleideten und den Uniformträger. Es ist zunächst das Betonen der Oberfläche, die vereinigt, was nichts miteinander gemein hat.

„Aber nur um hier zu glotzen, würde ich nicht 50 Euro für die Treffen-Karte bezahlen“, sagt Anke und tippt sich gegen die Stirn, „dafür ist es dann doch zu teuer.“ Oberfläche soll nicht mit Oberflächlichkeit verwechselt werden. Seit den 80er-Jahren gibt es die Gothic-Szene. Äußerlichkeiten halten nicht so lange zusammen. Zumal krasse Widersprüche der Szene überbrückt werden müssen: das Nebeneinander einer gewaltlosen Hippie-Attitüde und sado-masochistische Praktiken; konservative Werteinstellungen und Satanismus. In den Leipziger Straßenbahnen machen mit Metallstacheln übersäte Zwei-Meter-Kerle Platz für alte Omas, auf den Zeltplätzen peitschen sich, mal mehr, mal weniger ernsthaft, Menschen gegenseitig.

„Schwarz ist nur eine Farbe, aber auch mehr als das“, sagt Peter Matzke. Der wuchtige, grauhaarige Mann im schwarzen Anzug hat zwei Bücher über die Szene herausgegeben, „Gothic 1“ und „Gothic 2“ heißen sie. Als Pressesprecher des Wave Gotik Treffens sitzt er im Saal einer ehemaligen Kneipe, die auf dem Agra-Gelände steht. Schwarz zeigt das Abwenden von der Welt. „Das herrschende Wertesystem, der Konsum wird abgelehnt“, sagt Matzke, „der ganze American Way of Life ist kein erstrebenswertes Ideal.“

Aus dem Abwenden folgt die Suche nach etwas Neuem. Gothics suchen nach Auswegen aus der Entfremdung in den Industriegesellschaften. Dieses Gefühl verbindet Europäer, Amerikaner und Japaner. „Meine Welt ist laut, dreckig und eintönig“, sagt Kimiko Saito aus Tokio. Sie arbeitet für eine Luftfrachtfirma in der japanischen Hauptstadt und hasst ihren eintönigen Bürojob. „Ich fühle mich wie ein Roboter“, sagt sie, „deshalb werde ich nach Deutschland ziehen, hier wird mein Leben anders werden.“

Das Gefühl der Entfremdung haben natürlich viele, auch sie suchen Auswege. Dass die Gothic-Szene dennoch nicht wächst, mag an ihrem Äußeren liegen und daran, dass ihre Protagonisten oftmals wie die Loser in der Schulklasse aussehen. Was ihnen egal ist, denn in dieser Welt wollen die meisten Gothics auch nicht gewinnen.

Sie wollen die eigene Welt nicht ändern, denn das ist uninteressant und auch nicht möglich. „Der Mensch ist ein böses Tier“, zitiert die zwanzigjährige Vivien aus der „Satanischen Bibel“ des Church-of-Satan-Gründers Anton Szandor Lavey. Getreu dem Vanitas-Motiv des Barock: alles menschliche Mühen ist vergeblich. Die Konsequenzen daraus sind damals wie heute die gleichen: wilde Feste und spirituelle Sinnsuche.

Die blass geschminkte Leipzigerin Vivien feiert mit einem Freund auf einer Fetischparty, er führt sie an einer Kette. Am frühen Nachmittag ist noch nicht viel los, doch ab Mitternacht winden sich Menschen verschlungen in Käfigen und auf der Bühne tropfen Männer und Frauen im schwarzem Leder heißes Wachs auf Frauen in weißem Leder. „Gothics schaffen sich ihre eigene Welt“, sagt Vivien. Eine Welt, in der sie zum Beispiel Masochistin sein kann.

Gothics suchen einen Sinn – überall. Es gibt tausende Webseiten mit Recherchen zu alten Texten, Religionen und Mythen – Dingen, die den meisten Menschen außerhalb der Gothic-Szene absolut unnütz erscheinen. Auf dem obligatorischen Mittelaltermarkt gibt es Runen für 6,50 Euro.

„Wir sehen eben viele Dinge anders und wir sehen mehr Dinge“, sagt Vivien. Sie hat sich früh mit dem Tod beschäftigt, weil ihre leibliche Mutter tot ist. Sie traf sich mit Leuten aus der Leipziger Szene. Ihrer Adoptivmutter hat dies nicht gefallen, sie gab Vivien zu Pfingsten Hausarrest, das Wave Gotik war tabu. „Manchmal sind wir auch extra deswegen weggefahren“, sagt das zierliche Mädchen und lächelt leicht. „Meine Mutter hatte ziemliche Angst.“

Inzwischen ist sie in eine eigene Wohnung gezogen. Wenn sie als Mediengestalterin arbeitet, trägt sie ihre schwarzen Kleider, aber nicht das Stachelhalsband und weniger Schminke. Sie will „kein Feierabendgruftie“ sein. „Ich bin Satanistin, das heißt, dass ich selbst bestimme, was ich tue“, sagt sie, „das bedeutet auch, dass ich frei bin.“ Vivien versteht Luzifer als den Engel des Lichts. Als jemand, der Freiheit und Erkenntnis wollte und den Gott unrechtmäßig dafür strafte.

„Satanismus heißt nicht, kleine Katzen zu schlachten“, sagt Vivien immer wieder. „Leider gibt es ja auch ein paar Kinder, die das so verstehen.“ Aus ihrer Stimme trieft Verachtung. Sie will sagen, dass das derzeitige Ergebnis mehr ist als jugendliche Spinnerei. Dafür ist auch die Szene zu alt. Viele über 30-Jährige sind dabei auf dem Gotik-Treffen, oft sogar mit Kindern. „Mit Christen diskutiere ich gern“, sagt sie und nickt ernsthaft, „aber ich respektiere natürlich ihre Meinung.“

Toleranz ist ein Wert, den die Szene gern für sich in Anspruch nimmt. Neutral sollen die Dinge gesehen werden, ohne Vorurteile. Oftmals scheint es eher Ignoranz zu sein. Leuten, die sich im weißen T-Shirt auf das Treffen gewagt haben, passiert nichts. Sie kommen für die meisten Gothics einfach nicht vor. Auch wenn die Church of Satan quasi-faschistisches Gedankengut von der Auslese schwacher Menschen propagiert, wird dies gern ignoriert. „Faschisten hätten bei uns aber keine Chance“, meint Vivien. „Dazu sind wir viel zu tolerant.“ Niemand soll auf seiner Suche gestört werden, Erkenntnisse lassen sich angeblich überall finden.

Fraglich ist, ob man finden will. Noctulus ist bei jedem Wave Gotik Treffen dabei und am Ende seiner Suche. Er hat seine eigene Welt gefunden: Sie ist ein Kreis, um den herum Eisenstäbe in den Boden gerammt sind. In diesem Kreis stehen zwei Zelte und ein Haufen Gerümpel, das Noctulus multimediale Installation nennt: kleine Lampen, die aufflackern, davor steckt ein Schwert im Boden, direkt neben einem kleinen Dia-Projektor und einem Kerzenständer. Auf einem gelben Plakat steht, er sei das lauteste „Ein-Mann-Gothic-Vampire-Industrial-Projekt-der-Welt“. Unter seiner schwarzen Priesterrobe trägt er ab und an einen Helm und singt mit tiefer Stimme, dass Nebel das heilige Geheimnis um seine heilige Mission umklammere. Er singt von Prinzessinnen.

Um die Welt von Noctulus stehen und sitzen immer Leute, sie lassen sich Autogramme geben, kaufen aber seine Platten nicht. Sie halten ihn für einen Spinner, sehen aber mit Unbehagen die Gemeinsamkeiten.

Sie rufen ihm kumpelhaft zu, er solle dieses oder jenes singen, und ziehen ab und an heimlich den Stecker aus seinem Verstärker. Sie sehen, wo die Suche enden kann, und haben Angst davor. Deshalb haben sie Noctulus zum Kult gemacht. „Der ist geil“, sagen sie und erzählen sich gegenseitig, wie lange sie ihn schon kennen.

Sie wissen nicht, dass er Gregor und 32 Jahre alt ist. Sein Vater, der ihn „nicht so richtig verstanden hat, ist an Krebs gestorben“. Mit 18 verliebte er sich in ein Mädchen: „Seitdem bin ich Minnesänger“, sagt Gregor, „ich singe für die Prinzessinnen hier, aber die gucken mich nicht richtig an.“

Nicht, dass er hässlich wäre mit seinem gebräunten Musketiergesicht. Aber seine Suche hat ihn weit weggeführt. Zu weit selbst für die Suchenden. Zu weit für ihren Tanz der Blicke.