Mama is a Rolling Stone

Kunst ist schön, muss sich aber auf Kommerz reimen – mit diesem Verständnis von Musik hat Cherilyn Sarkasian LaPierre es weit gebracht

VON JAN FEDDERSEN

Es gab mal eine Zeit, da unterwarf sie sich noch dem Zeitgeist. Das war Anfang der Siebzigerjahre, Woodstock war längst wieder ein Acker, die ersten Helden aus jener Künstlergeneration waren am Drogenglauben gestorben, und sie selbst hatte schon ihre erste Karriere hinter sich. Allerdings war sie kein Teil jener Szene, die damals – wie in der Erinnerung von heute – für die große Erzählung von der Weltveränderung stand. Nein, Cherilyn Sarkasian LaPierre, verheiratete Bono, war keine Schwester einer Janis Joplin, einer Carole King oder Joni Mitchell.

Sie hatte es mit ihrem Gatten Sonny einfach nur geschafft, durch Songs wie „I Got You, Babe“, „Little Man“ oder „Baby, Don’t Go“ als Pop-Duo berühmt zu werden. Mit ihrem Verständnis von Musik – Kunst ist schön, muss sich aber auf Kommerz reimen – brachten die beiden es über den Status von Lokalgrößen in einem kalifornischen Elendsgebiet hinaus. Nicht mehr als wichtige Tonspuren der Jahre seit 1965, nicht weniger als Liedchen jenseits des alternativen Mainstreams. Und als ihr das bewusst wurde, als ihr vielleicht sogar dämmerte, dass sie es nie auf ein Lob der Mittelschichtskinder von Woodstock bringen würde, da beichtete sie der Vogue fast selbstanklagend: „Wir sind so spießig, dass es einen krank macht.“

Das hatte sie natürlich nicht nötig, denn was sollte gegen ein Leben ohne Drogen, Eheexzesse oder verwahrloste Umgangsformen einzuwenden sein – außer dass dies alles eben mit dem giftigen Wort „spießig“ belegt wurde? Doch das war Cher, wie sie sich nach der Trennung von Bono nannte, vermutlich einerlei. Der Reporter wollte es hören – also sagte sie ihm, was er ohnehin geschrieben hätte und sie außerdem als nützlich für ihre künstlerische Neujustierung einsetzen konnte. Denn Cher hatte, jedenfalls vor den Jahren, als sie durchschnittlich 30 Millionen Dollar Umsatz machte, andere Sorgen: Sie, 1946 geboren, musste sich überwiegend auf sich selbst verlassen, um am Leben nicht zu scheitern. Ihre Mutter, indianischer Herkunft, bevorzugte flüchtige Partnerschaften, der Vater von Cher war ein armenischer Trucker. Stabilität gab ihr erst ein Stiefvater – und seit Anfang der Sechziger der Gelegenheitsarbeiter Salvatore Bono, ihr erster Mann.

In ihrer Biografie umriss Cher knapp die Bedingungen, ehe sie zur – neben Barbra Streisand – ältesten Ikone im Pop- wie im Divengeschäft wurde: „In den ersten zehn Jahren meines Lebens kannte ich nur Armut und Umzüge, Gummibänder als Schnürsenkel. Bis heute habe ich vor dem Armsein eine Todesangst. Damals habe ich mir diese Traumfigur ausgedacht und Autogrammeschreiben geübt. Ich wollte immer eine berühmte Cher sein.“

Und das genau ist sie tatsächlich geworden – und wie. Nicht unbedingt ihrer Musik wegen, wenngleich auch die sich gut hören lässt. Ende 1998 beglückte sie die Welt mit dem cyberangehauchten Housesong „Believe“ – nie zuvor war die Interpretin eines Nummer-eins-Songs älter. Und wie frisch und, ja auch, zeitgeistig klang das, was sie da zu Pop machte. Selbstverständlich ging sie gleich wieder auf Tournee. Was ich kann, werde ich zeigen, war immer ihr Credo. Bloß nicht verstecken. Nie mehr arm sein, nie mehr bedürftig, wenigstens nicht materiell.

Und wie hübsch sie sich jeder Norm von der unveränderlichen Natürlichkeit entzog. Shocking war es selbst für das körperverliebte Amerika, als Cher Mitte der Siebziger ihr ausgesprochen pragmatisches Verhältnis zur Schönheitschirurgie, zum corrigez la fortune, ausplauderte. Denn sie wollte ja wirklich alle Spuren ihrer ärmlichen Herkunft tilgen – und ganz oben auf der Wunschliste stand die Sehnsucht, dass with a little help from the doctor die Narben ihrer Akne verschwänden. So geschah’s und so ging es weiter. Ob der Busen, die Beine, der Hintern, die Arme oder der Hals – Cher hatte niemals Bedenken, so zu werden oder zu bleiben, wie sie wollte: jung, attraktiv, ansehnlich im eigenen Spiegel. Kulturkritische Bedenken („Nimm dich, wie der Schöpfer es gewollt hat“) lagen ihr gewiss fern, lediglich eine gewisse Angst vor der Vollnarkose wird ihr nachgesagt.

Und auf diese Weise avancierte sie zum Rollenmodell aller Frauen, die nicht auf goldenen Daunen geboren wurden, das Idol all jener, die an Cher sahen, was man machen kann, wenn man aufs Jammern verzichtet: wenn man nur Geld hat.

Das, selbstverständlich, hatte nach gewissen Anlaufschwierigkeiten Cher im Überfluss. Dass sie, so ausgerüstet, gerne shoppen geht, versteht sich jetzt wohl von allein. Ihre Freundin Nana Mouskouri, die ohnehin die kumpeligen, hilfsbereiten Seiten von Cher von Herzen lobt, erzählte mal die Geschichte, wie Cher nach einem Einkaufsbummel in Beverly Hills zutiefst befriedigt ausrief: „Herrlich, immer wieder herrlich.“ Gedanken, dass mit jedem Akt des Konsums nur eine innere Leere überbrückt werden könnte, hat sie überlieferterweise nicht: Sie kann, was sie kann – und das in vollen Zügen.

Inzwischen, das wird man auch sehen können, wenn sie in Deutschland während ihrer Abschiedstournee („Farewell“) gastiert, gehören die Legenden um ihre wächsern gewordene Makellosigkeit zur Inszenierung der Cher selbst: Man soll staunen, man soll sie loben, man soll ihren Triumph über ein Antlitz der Vergänglichkeit bewundern. Das gleiche Programm ohne die Legende Cher im Focus der Scheinwerfer wäre zwar immer noch sehenswert – aber zugleich auch kaum mehr als ein ästhetischer Knicks vor den pyrotechnischen und zirzensischen Angeboten amerikanischen Entertainments.

Cher jedenfalls steht vor dem Gebirge ihres eigenen Erfolgs. Ohne ihre Songs wären viele Popjahre ärmer gewesen, ohne ihre Filmrollen die Geschichte Hollywoods um eine Anekdote verpasster Chancen reicher. Die lesbische Kernkraftwerksarbeiterin in „Silkwood“, die Mutter in „Maske“ (in Cannes bedachte man sie dafür mit höchsten Ehren), die Buchhalterin in „Mondsüchtig“, die sich vom Bäcker (Nicolas Cage) flachlegen lässt, und zwar erst ungern, dann umso lieber: keine Rolle in ihrer famosen Schauspielkarriere spielt sie wirklich herzergreifend. Stets sieht ihr Gesicht wie erstarrt aus, alle Regungen müssen vom Zusehenden vermutet werden – und eben diese Distanz macht das Rollenmodell Cher überhaupt erst erträglich. In „Meerjungfrauen küssen besser“, einem fast autobiografisch anmutenden Märchen über eine allein erziehende Mutter, die vor ihren Männern flüchtet, wenn diese sie ernsthaft lieben, war Cher am besten: die Frau, die sich den Alltäglichkeiten der Geschlechterwirren besser entzieht, weil, ließe sie sich darauf ein, sie sich in ihnen nur schmerzlich verheddert. Das war, aller Komik dieses Streifens zum Trotz, ergreifend.

Sie ist, so ihr Hit „Strong Enough“, tatsächlich stark geblieben. Hat die Häme ausgehalten, die Cineasten anstimmten, als sie es in Hollywood probierte; hat bewiesen und bewiesen und immer wieder alles bewiesen: dass sie es kann. Also ihren Lebensroman mit fast rüder Konsequenz gelebt. Hat gelebt? So gewiss ist nicht, dass Cher wirklich letztmals auf Tournee geht? Was soll sie auch machen, erst 58 Jahre jung? In Pension gehen? Wer sagt denn, dass knapp 50 Jahre nach Erfindung des Rock’n’Roll für eine wie sie Schluss sein sollte?

Lieber zeigt sie auf der Tournee Spots aus ihrem Familienalbum, ohne indiskret zu werden. Motto: Mama war mal ganz am Anfang. Fotos mit Sonny, in Las Vegas, als Schauspielerin – als Resultat eines „Gesamtkunstwerks“ (Cher über Cher), das Adeptinnen wie Madonna, Britney Spears oder Christina Aguilera noch einen langen Weg vor sich haben. Eine sehr lange Strecke. Möglicherweise ein Leben mit vielen Männern, die meist nichts taugen. Mal mit mehr, dann wieder weniger Sex.

Dass es sich aber sehr, sehr lohnt, nicht klein beizugeben. In dieser Botschaft steckt für ihre Enkelinnen, klar, auch eine schreckliche, eine für diese bedrohliche Botschaft: Ich werde noch lange da sein. Mutter könnte euch glatt überleben. Warum? Weil sie’s kann!