Allein unter Muggeln

Die Welt des Harry Potter erfüllt alle linksintellektuellen Ansprüche. Vor allem den der politischen Korrektheit. Trotzdem sind Potter-Fans unter Intellektuellen isoliert: Der Stoff ist schlicht zu leicht

VON STEFAN ALBERTI

„Kinderkram.“ Was? „Kinderkram“, sagt der Kollege noch mal. Harry Potter, Bücher, neuer Film? Stimmt, da war doch was. Aber wen juckt’s? Wen juckt’s? Muss doch! Schreibt doch die Bild-Zeitung in miesester Fehlberichterstattung zum heute anlaufenden Film davon, Sirius Black sei düsterer Diener des Bösen und habe es auf Harry abgesehen. Dabei ist doch … Der Kollege guckt, als hätte er einen Bekloppten vor sich. Black? Böses? Er ist kein Einzelfall. Gut ein Dutzend Kollegen, alle wunderbar als linksintellektuell einzuordnen, alle belesen, schütteln den Kopf. Wer liest den so was? Einer schließlich outet sich – nicht ohne schnell hinzuzufügen „war aber auf Englisch“.

Die Harry-Potter-Ignoranz hat etwas Schizophrenes. Die Reihe – seit vergangenem Jahr sind fünf Bücher auf dem Markt, drei sind verfilmt – ist so ungefähr das politisch Korrekteste, was man sich vorstellen kann. Vor allem die Titelfigur: belastender familiärer Hintergrund (Waisenkind), traumatisiert in frühester Jugend (miese Pflegeeltern sperren ihn ins Kabuff unter der Treppe), als Hochbegabter isoliert (Mitschüler bewundern oder fürchten ihn wegen seiner Zauberkräfte).

Als Negativgestalten gibt es faschistoide Rasseideologen, die sich als Zauberer von den nichtmagischen Menschen, den so genannten Muggeln, abgrenzen. Dazu kommt eine gute Potter-Freundin, die zur muggelstämmigen Minderheit gehört. Und schließlich – ab Band 5 – eine Schwarze als Teamchefin der Schulmannschaft.

Potter-Bücher sind zudem prädestiniert als Mehrgenerationenbuch. Ähnlich wie Astrid Lindgrens „Ferien auf Saltkrokan“, das gut in drei Alterstufen zu lesen ist: als Kind, als Teenager und kurz vor der Midlifecrisis. Was in „Saltkrokan“ der leicht schusselige Melcher Melcherson, ist bei Potter der wegen liberaler Erziehungsmethoden von konservativen Eltern kritisierte Schulleiter. Und gerade dieser Mehrgenerationenansatz führt zur Aufweichung der Potter-Ignoranz: Lesen die Kinder die Bücher, lesen die Eltern oft mit.

Eigentlich wären also alle Ansprüche erfüllt. Das Problem ist bloß: Die Bücher sind gut geschrieben. Zu gut für jemanden, der etwas darauf gibt, linksintellektuell zu sein. Es macht nämlich Spaß, sie zu lesen. Spaß aber ist etwas für die FDP und die böse, böse Spaßgesellschaft. Literatur, die muss doch richtig schwer sein. Sodass man nach 500 Seiten erkenntnistheoretischen Stoffs auch das Gefühl hat, richtig was geschafft zu haben. Wie heißt das noch in Spoerls „Feuerzangenbowle“? Das sei wie mit der Medizin: „Sä moss better schmecken, sonst nötzt sä nechts.“

Das führt generell dazu, dass man John Grisham entweder nur verschämt und am besten eingeschlagen in einen Houellebecq- oder Virilio-Umschlag lesen kann, um nicht mitleidige Blicke abzubekommen.

In einer eher linken US-amerikanischen Buchhandlung standen vor ein paar Jahren schon die Grishams mit den Follets und den Crichtons im Regal mit der abwertenden Überschrift „airplane reading“. Einzige Alternative: im Original lesen. So wie jener einzige Kollege, der sich als Potter-Leser outete. Der Satz „Um etwas fürs Englisch zu tun“ exkulpiert fast alles. Das hat etwas von jenem englischen Butler, der in Kazuo Ishiguros „Was vom Tage übrig blieb“ die Lektüre eines Liebesromans damit rechtfertigt, bloß sein Vokabular verbessern zu wollen.

Derartiger Lesemasochismus lässt sich noch steigern. Eine Bekannte gestand, auch ein Verwandter habe Harry Potter gelesen. Aber übungsweise statt im englischen Original – käme ja tatsächlich ganz gut, weil näher an der oft neblig-britischen Zauberschlossatmosphäre – auf Italienisch, der Ciao-bella-Sprache sonniger Toskanaeindrücke.

All das bringt einen als Harry-Potter-Leser in eine Harry-Potter-Lage: Man ist isoliert. Keiner ist da, mit dem man sich gemeinsam entsetzen kann über eingangs erwähnte, empörende Bild-Berichterstattung.

Keiner da, mit dem man die Einsicht teilen könnte, dass es das Flohnetzwerk der Zauberwelt bei einer deutschen statt englischen Autorin nie gegeben hätte – weil es hierzulande zu wenig der dafür nötigen Kamine gibt. Keiner, mit dem man darüber philosophieren könnte, dass der Name des mörderischen Potter-Gegners Voldemort übersetzt „Flug des Todes“ und ruhrgebietlerisch ausgesprochen „Todesfluch“ heißt.

Sicher lässt sich dies und Ähnliches in Internetforen besprechen. Aber beim abendlichen Get-together und beim Warming-up diverser Events? Selten so viele Menschen erlebt, die sich mitten im Gespräch abrupt Richtung Büffet oder Toilette entschuldigten. Selten so allein gewesen. Allein unter Muggeln.