Unerhörte Demokraten

Eine Rentnerin sitzt mit erhobener Faust im Wohnzimmer und ruft: „800 für 63 Millionen!“Was, wenn die Leute Nein sagen? „Das Risiko muss man eingehen“, sagt der Ortsvorsteher

AUS STREMPT/EIFEL KIRSTEN KÜPPERS

Es ist jetzt alles anders geworden im Dorf. Eine Stimmung, die übergeschwappt ist. Die Straße runter, in die Vorgärten hinein, hinter die Gardinen, am Gasthaus vorbei. Die Menschen in Strempt sind voll von dieser Stimmung. Schon vor dem Frühstück schalten sie die Fernseher ein. Im Auto drehen sie die Radios lauter. Sie telefonieren jetzt dauernd miteinander. Auch beim Bäcker bleiben sie stehen und reden. Neuerdings haben die Strempter immer Fotoapparate dabei. Sie fotografieren sich gegenseitig, halten den Moment fest, in dem ihr Ort diesem Land zeigt, wie man es macht. Es gibt in Strempt mittlerweile Rentnerinnen, die mit erhobener Faust im Wohnzimmer sitzen und rufen: „800 für 63 Millionen Deutsche!“

Und so ist es ja tatsächlich. Zur Europawahl am 13. Juni stimmt das kleine Dorf Strempt in der Eifel über die EU-Verfassung ab. Über den Entwurf jedenfalls und eigentlich auch nur symbolisch, aber immerhin. Etwa 1.000 Menschen wohnen hier, 800 davon dürfen wählen gehen. Sie haben sich vorgenommen, bei dieser Wahl auf sich aufmerksam zu machen. Am 13. Juni werden sie daher nicht nur hinten im Wahllokal der Sonderschule die Kandidaten für das Europaparlament wählen. Das Pfarrheim oben an der Bushaltestelle werden die Strempter genauso zum Wahllokal umfunktionieren. Dort werden sie auf blauen Stimmzetteln mit Ja oder Nein stimmen, sie werden ein Kreuz machen und die Zettel in einen grauen Kasten werfen.

„Wir finden, über so etwas Wichtiges wie eine Verfassung sollte das Volk entscheiden dürfen“, erklärt Wulf-Dietrich Simon, der Ortsvorsteher von Strempt, dem einzigen Ort in Deutschland, der sich das traut. Es ist nicht vorgesehen, dass die Deutschen über die EU-Verfassung abstimmen. Aber die Strempter haben keinen gefragt. Sie haben einfach losgelegt und jetzt läuft die Sache.

Wahrscheinlich war die 50-Jahr-Feier schuld. Ende April feierte die „Unabhängige Wählervereinigung“ (UWV) der Großgemeinde Mechernich in der Mehrzweckhalle ihr Jubiläum. Im Stadtrat von Mechernich sitzen sechs Vertreter der UWV. Sie kämpfen gegen Umgehungsstraßen und Mülldeponien in der Region. Strempt ist eine von 44 Ortschaften, die zu Mechernich gehören, bei der Feier saßen auch viele Strempter auf den Stühlen in der Halle. Vorne stand ein Mikrofon, Blumensträuße wurden überreicht, die Luft war warm, Musik spielte, irgendwann hielt auch ein junger Mann eine Rede. Der junge Mann war ein Vertreter von „Mehr Demokratie e. V.“. Man hatte ihn eingeladen, weil man fand, dass so einer zum Geburtstag einer Unabhängigen Wählervereinigung passt. Er hinterließ einen vernünftigen Eindruck.

Ein paar Tage später klingelte bei Wulf-Dietrich Simon, der nicht nur Ortsvorsteher, sondern auch UWV-Mitglied ist, das Telefon. Simon ist ein hagerer, bärtiger Mann, der seine letzten Berufsjahre in einem Altersteilzeitmodell verbringt. Er war zu Hause, als das Telefon klingelte. Es war der junge Mann von „Mehr Demokratie“, der anrief. Er hatte eine Idee. Strempt eignete sich gut für die Idee.

Strempt ist ein kleiner Ort, in dem man nicht weglaufen kann. Vielleicht funktioniert die Demokratie hier deswegen besonders reibungslos. Als das Geld in den öffentlichen Kassen knapp geworden ist, haben die Strempter angefangen, ihre Bürgersteige selbst zu pflastern. Sie haben Spenden gesammelt, sie haben ihren Dorfplatz begrünt. Und damit Licht brennt auf dem Platz, haben sie 250 Meter Kabel unter dem Rasen verlegt. Es gibt in Strempt eine Gymnastikgruppe, einen Karnevalsverein und einen Schachclub. Es sieht so aus, als halten die Strempter zusammen, wenn es darum geht, die Dinge zum Laufen zu bringen.

Und wirklich: Nach dem Anruf beim Ortsvorsteher, nachdem es in der Gaststätte „Zur Linde“ eine Versammlung gegeben hat, nachdem der junge Mann von „Mehr Demokratie“ einer Gaststube voll Stremptern von seiner Idee einer Volksabstimmung zur EU-Verfassung erzählt hat, man noch ein Bier bestellte und sich ein trotziger Stolz im Raum festgesetzt hatte – da war die Sache klar.

Es hat nicht lange gedauert, und die Sensation war in der Welt. Die Katzen schlafen auf den Fensterbrettern, aber es gibt jetzt Fernsehteams, die Strempt auf der Landkarte suchen und anreisen. Das Telefon hört nicht auf zu klingeln und Waltraut Simon, die Frau des Ortsvorstehers, hat plötzlich das Haus voll mit fremden Leuten, die mit wuchtigen Kameras in ihrer Wohnzimmereinrichtung stehen, Kaugummi kauen und Fragen stellen.

Die Journalisten fallen regelrecht ins Dorf ein. Sie klingeln an Haustüren, sie filmen Geranien an Gartenzäunen, den vorbeifahrenden Traktor, die Langsamkeit der Provinz. Selbst als im Pfarrheim gerade der Eierlikör an den girlandengeschmückten Tischen ausgeschenkt wird, platzen Fernsehleute in den Seniorennachmittag und holen sich von rotbäckigen Renterinnen Sätze ab wie diesen: „Die sollten mich mal an die Regierung lassen, dann sähe hier alles ganz anders aus!“

Die Aufregung ist nicht schlecht für Strempt. Eine Unruhe, die die Menschen aus der Gleichförmigkeit ihrer Tage holt. Es scheint, als habe die Strempter ein großes Selbstbewusstsein erfasst. Sie stellen sich jetzt mit verschränkten Armen auf den Dorfplatz und rufen in die Mikrofone: „Der Euro wurde eingeführt und keiner wurde gefragt. Es ist eine Frechheit, die Menschen nicht abstimmen zu lassen!“ Vielleicht wird Strempt noch berühmt. „Vielleicht kommen dann ein paar mehr Ausflügler her“, hofft die Wirtin vom Gasthof „Zur Linde“.

In knapp zwei Wochen ist die Wahl, es ist noch so viel zu tun. Ortsvorsteher Simon gibt jetzt schon morgens Radiointerviews. Die Bevölkerung muss informiert werden. An Freitagnachmittagen verteilt seine Frau den Pfarrgemeindebrief in die Briefkästen. Diesmal legt sie die Stimmzettel und die Handbücher mit der EU-Verfassung dazu. Und weil ja keiner eine ganze Verfassung durchlesen mag, schiebt sie noch ein Faltblatt hinterher. Zehn Gründe für und zehn Gründe gegen die Verfassung sind darin aufgelistet. Selbst der letzte Nachbar soll wissen, worum es hier geht. Deswegen spricht auch der Pfarrer in seinen Gottesdiensten das Thema an. Nächste Woche wird es im Gasthof eine Podiumsdiskussion geben, eine Country-Sängerin aus der Region wird den Abend musikalisch begleiten. Simon will jetzt noch die Plakate aufhängen.

Auf den Plakaten ist ein kleines Dorf unter einer Lupe zu sehen. Wie bei Asterix. Jedes Kind kann diese Plakate verstehen. Spätestens jetzt wissen die Strempter, dass es wirklich um etwas Wichtiges geht. Sie hören den Pfarrer, sie lesen die Faltblätter. „Es gibt wohl keinen Ort in Deutschland, in dem sich die Bürger besser mit der EU-Verfassung auskennen als Strempt“, glaubt der Ortsvorsteher. „Wir rechnen mit einer besonders hohen Wahlbeteiligung. Höher als sonst bei einer Europawahl.“

Eine Zeitung aus Italien hat sogar schon berichtet. Das Ereignis scheint immer größer zu werden. Müssen die Politiker in Deutschland jetzt Angst haben vor den Stremptern? Wird die EU-Verfassung von einem kleinen Ort in der Eifel gestoppt? Kommt die nächste Revolution aus Strempt?

Man kann das Daniel Schily fragen. Er ist der junge Mann von „Mehr Demokratie“, er hat die Sache losgetreten, und zufällig ist er auch der Neffe von Innenminister Otto Schily. Vor ein paar Wochen hat er seinen Onkel auf einer Familienfeier getroffen, er hat ihm von seinen Plänen in Strempt erzählt. Otto Schily hat abgeraten. „Zu gutmenschenhaft“, fand er. Aber der Neffe hat sich trotzdem einen grauen Nadelstreifenanzug angezogen. Er hat sich ins Auto gesetzt, er ist in die Eifel gefahren und hat einen gut besuchten Dorfgasthof überredet. Jetzt guckt die Welt auf Strempt. Daniel Schily muss wissen, wie es weitergeht.

Daniel Schily steht auf dem Strempter Dorfplatz. Er sagt: „Natürlich hat die Politik in Berlin Angst. Die Strempter können zwar die EU-Verfassung nicht stoppen. Es ist ja nur ein symbolischer Wahlgang, ohne wirkliche Konsequenzen.“ Er lacht. Er schiebt die Hände in die Hosentaschen, er ist ganz gelassen. Er hebt sich das „aber“ auf für den Schluss. Daniel Schily hat es schon in viele Mikrofone gesagt: „Aber wenn es funktioniert. Wenn die Strempter wirklich zur Wahl gehen und mehrheitlich für die Verfassung stimmen – dann müssen sich die Politiker in Deutschland schon fragen lassen, warum sie das Volk nicht überall abstimmen lassen.“ Er wippt auf die Zehen. Er hebt sich diesen Satz für jedes Interview auf. Es ist der beste Satz, den Strempt zu bieten hat.

Und wenn es schief geht? Wenn die Strempter gegen die Verfassung stimmen? „Das Risiko muss man eingehen“, antwortet Ortsvorsteher Wulf-Dietrich Simon. „Wenn die Leute die Verfassung in der jetzigen Form ablehnen, dann muss das ein Signal an die Politik sein. Das zeigt, dass der Entwurf verbessert werden muss.“ Er nickt. Er weiß, dass das eine gute Antwort war. Die Meinung eines echten Demokraten. Ein paar Dorfbewohner stehen um Simon herum. Einer hebt die Kamera und macht noch ein Foto.