Perfekte Darsteller ihrer selbst

Intensive Porträts: Für seine gelungene Langzeitdokumentation „Die Spielwütigen“ hat der Filmemacher Andres Veiel vier Schauspielstudenten begleitet – von der Aufnahmeprüfung an der Berliner Ernst-Busch-Schule bis zu den ersten Engagements

Verglichen mit dem Raum des Films wird die Bühne zu einem kleinen, engen Kasten

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Herr und Frau Antoniadis schauen befremdet. Ihr Sohn Prodromos steht vor ihnen im Wohnzimmer und brüllt: „Hört nur zu, ihr Wichser, ihr Arschlöcher, hier ist der Mann, der sich wehrt.“ Wut arbeitet in den Zellen seiner dichten Körpermasse und in dem runden, schon leicht gelichteten Schädel. Je näher er der Rolle des Taxidrivers kommt, desto tiefer scheinen seine Eltern in die Polster ihrer Couch zu sinken. Prodromos ist 25 und probt für seine Bewerbung auf der Schauspielschule. Später denkt er laut darüber nach, warum seine Eltern so distanziert bleiben. Ob sie vielleicht seinen gesellschaftlichen Aufstieg fürchten und den Glamour seiner Zukunft als Schauspieler.

So beginnt „Die Spielwütigen“, ein Dokumentarfilm von Andres Veiel über vier Schauspielstudenten, mitten in den Familien, in engen Räumen und intimen Situationen. Fremdheit breitet sich plötzlich zwischen Eltern und Kindern aus. Kleine Missverständnisse entstehen, von denen man schon ahnt, wie sie sich später zu Verletzungen auswachsen können. Der Film schlägt sich entschieden auf die Seite seiner jungen Protagonisten. Die Kraft, mit der sie ihren Wunsch, Schauspieler zu werden, vorantreiben, ist zugleich die Energie der Abnabelung. Die Bilder selbst scheinen nach dem Ausbruch zu lechzen, weg von den eingeschränkten Bewegungsräumen der Kamera (Hans Rombach) in den Zimmern, die das Zuhause waren.

„Die Spielwütigen“, das ist zunächst ein schöner Film über das Erwachsenwerden. Und über die Ideale, seien sie auch noch so irreal, die man braucht in dieser Phase der Verwandlung. Um sich daran wie an einem Seil herauszuziehen aus dem alten Ich, das verlassen werden will. Stephanie Stremler wird so eingeführt, überschwänglich, missionarisch: „Mein Leben ist Kunst.“ Mit einem immer überhöhten, angestrengten Ton beginnt sie, mühsam um jede Artikulation kämpfend. Man bangt um sie, auch als Zuschauer. Ihre Eltern versuchen betont sachlich, die Tochter gegen ihr eigenes Wünschen nach Leiden und Leidenschaften in Schutz nehmen. So hölzern freilich, wie sie ihre Standard-Argumente vorbringen – „hast du dir denn auch Gedanken über die Finanzen gemacht“ –, ist allerdings klar, dass Stephanie rebellieren muss.

Auf der Berlinale wurde „Die Spielwütigen“ dieses Jahr mit dem Panorama-Publikumspreis ausgezeichnet. Seit seinen Filmen „Die Überlebenden“ und „Black Box BRD“ gilt Andres Veiel als ein sensibler Beobachter. Auch „Die Spielwütigen“ lebt wieder von der Intensität der Porträts, die über einen Zeitraum von sieben Jahren (1996–2004) entstanden, in denen der Regisseur Prodromos, Stephanie, Constanze und Karina immer wieder traf. Aber die Authentizität der Charakterisierungen ist dennoch auch kalkuliert gestaltet, die Szenen gewählt.

Jeder Beobachter verändert die Situation, die er beobachtet. Das gilt bei diesem Film über junge Schauspielstudenten ganz besonders, denn natürlich berührt die Anwesenheit eines Regisseurs und einer Kamera ihre Interessen wesentlich. In Veiels Film sind die vier die perfekten Darsteller ihrer selbst, keinen Zipfel möchte man missen von Prodromos’ kleiner Überheblichkeit, Stephanies Ungeschick und Karinas Lebenslust. Auf der Bühne der Schauspielschule, der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin, werden sie ständig korrigiert. Vor der Kamera sind sie souverän und sympathisch in ihrem Dilettantismus. Von ihren Dozenten dagegen, in den vielen Szenen von Aufnahmeprüfung und Unterricht, werden sie dauernd unterbrochen, mit floskelhaften Phrasen nach ihrer Motivation gefragt und nicht in ihrer Persönlichkeit akzeptiert.

Die Bühne des Schauspiels scheint eng gegen den Raum, den der Film ihnen gibt: Nicht nur weil die Gänge der Ernst-Busch-Schule schmal, die Büros ungelüftet wie die einer seit 30 Jahren stillstehenden Behörde wirken und die schwarzen Wände der Probenräume immer gleich so einen existenzialistischen Fünfzigerjahre-Touch in die szenischen Übungen bringen. Mehr noch sorgt die autoritäre Struktur der Unterrichtsszenen für Beklemmung. Deren Beobachtung ist ein Subthema des Films und ein langfristiges Projekt von Andres Veiel. Was man an Instrumenten der Vermittlung kennen lernt, sind Verunsicherung, Angstmachen, mit Nichtbestehen und Abgang drohen und ständig eine Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit verlangen, von der nie spürbar wird, was ihre Basis sein könnte. Die Sprache der Lehrenden wirkt wie ein Jargon, der lange nicht mehr aus diesen Wänden herausgekommen ist.

Selbst Constanze Becker, die am meisten Anerkennung während des Studiums von ihren Lehrern erfährt, scheint dafür einen hohen Preis zu zahlen. Sie ist erfolgreich, weil es ihr möglich ist, sich weit von sich selbst zu entfernen. Ihre Rollen sind die klassischen Heroinen, Frauen mit Erfahrungen von Macht, Verrat, Verlust. Junge Frauen, nah der eigenen Biografie, sind von ihr nicht gefragt. Man nimmt ihre Darstellung als Leistung wahr, bewundert ihre Kraft in den Rollen; aber man sieht auch den Verlust. Ein Stück ihrer Jugend wird aufgefressen, geopfert einem Repertoire und Kulturspeicher, der wenig mit ihrem Leben zu tun hat.

Wie ist man da jedes Mal froh, wenn die Kamera und die jungen Schauspieler die Schule verlassen, Zug fahren, durch die Stadt skaten, später in Leipzig und Dresden von Dächern auf die Städte ihrer ersten Engagements blicken oder auf die Skyline von New York. Außenaufnahmen! Luft! Himmel! Totalen! Dass die fehlen, lässt dem Theater in Veiels Film schon keine große Chance. Theater bleibt eine eingekastelte Institution. Film dagegen, das ist der Geruch von Freiheit.

Letztendlich erfüllt damit die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Veiels Film damit aber auch genau die Funktion, die Schule meistens in jeder guten Filmstory hat: Gegen ihren Widerstand kann man an ihr wachsen. So folgt diese Langzeitdokumentation einer definierten Dramaturgie. Was gäbe eine glückliche Schulzeit schon groß her, um das Drama des Erwachsenwerdens zu erzählen?