Platz der himmlischen Ruhe

„Der neue Nationalismus kommt von unten“

AUS PEKING GEORG BLUME

Über dem schwarz-weißen Minirock mit Marilyn-Monroe-Motiven trägt die 20-jährige Wei Yufang eine weit aufgeknöpfte Bluse. Neben ihr auf den Treppen zur Guanghua Management School der Peking-Universität steht die 21-jährige Deng Xiaohong: in einem Batikhemd mit Spaghetti-Trägern und hellblauen Plastiksandalen. Und während die beiden jungen Frauen in fließendem Englisch die Kontroversen über das staatliche Eingreifen in Chinas überhitzte Wirtschaft diskutieren und dann ihren langen Prüfungsweg aus der tiefen Provinz bis an Pekings elitäre Business School beschreiben, bestätigt sich der erste Eindruck: Zwei Traumfrauen – jung und gut aussehend, erfahren und sprachbegabt, noch dazu ökonomisch gebildet. Wem, wenn nicht Wei und Deng, liegt die Welt heute zu Füßen?

Muss man den Studentinnen also verzeihen, wenn sie von der Vergangenheit nichts mehr wissen wollen? „Der 4. Juni war ein Desaster“, sagt Wei. „Warum also noch darüber reden?“ Vielleicht weil die Demokratie, für die an diesem Tag vor fünfzehn Jahren ungezählte Pekinger Studenten starben, ein ewiges Anliegen ist? Von wegen. „Demokratie ist für uns zweitrangig“, sagt Deng. Punktum!

Das sind neue Töne für die ehrwürdige Peking-Universität, die noch heute hinter grauen Ziegelmauern auf einem ehemaligen kaiserlichen Gartengelände der Xing-Dynastie im Nordosten der Hauptstadt liegt. 105 Jahre wird die Universität in diesem Frühling alt und gilt vom Tag ihrer Gründung bis in die Gegenwart als wichtigstes Sammelbecken demokratischer Ideen in China.

Von dem mit einer berühmten Pagode und Wasserlilienteichen geschmückten Campus startete einst die erste demokratische Volksbewegung Chinas – die 4.-Mai-Bewegung des Jahres 1919. Später versammelten die Kommunisten an der Peking-Universität alle wichtigen Geisteswissenschaftler des Landes – um sie besser kontrollieren zu können. Nur eines gelang ihnen an diesem Ort nie: den Professoren und Studenten die Gedankenfreiheit zu stehlen.

Und so war es nur logisch, dass auch die demokratische Studentenrevolte von 1989 hier ihren Ausgangspunkt fand. Auf den Wandzeitungen der Peking-Universität formulierten die Studenten damals ihre Forderungen, bevor sie sie auf den Tiananmenplatz vor die Tore der Herrschenden trugen. Schlichte Kerzen auf den Schreibtischen dutzender parteipolitisch unbelehrbarer Universitätslehrer werden nun heute, am 15. Jahrestag des Massakers vom Tiananmenplatz, von dem Gedenken an die Opfer der Revolte und der Kontinuität demokratischen Denkens in China zeugen.

Auch auf dem einfachen Kunstholz-Schreibtisch eines hier nicht mit Namen zitierten Professors wird ein Licht brennen. „Die Toten von damals zählen zum Gewissen der Menschheit“, erklärt der angesehene Gelehrte der Universität. Neben ihm hängt ein Plakat mit der Kant’schen Schrift zum ewigen Frieden, auf dem ein Satz des deutschen Denkers rosa unterstrichen ist: „Dass Könige Philosophen, oder Philosophen Könige werden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil unvermeidlich verdirbt.“ Fern der Gewalt und frei im Urteil aber waren vor fünfzehn Jahren auch die revoltierenden Studenten. Sind sie es heute wieder?

Der Professor macht sich darüber keine Sorgen: „Ich kann im Lehrsaal über unseren Präsidenten schimpfen, wie ich will. Die Freiheit an unserer Universität ist nicht eingeschränkt.“ Auch landesweit hält er die Ära der politischen Gedankenkontrolle ein für alle Mal beendet. „Die oben wollen das noch, aber es geht nicht mehr“, sagt er. Doch für den Gelehrten ist das nicht nur Grund zur Freude. „Der neue Nationalismus“, bedauert er, „kommt von unten.“

Man müsse nur in die Chatrooms im Internet schauen, wo zu lesen sei, was die Studenten heute denken. Dort sei neuerdings wieder die heldenhafte Verehrung Mao Tse-tungs zu entdecken: „Weil der so entschied, wie er wollte.“ Hass auf Japan mache sich breit, der im Zuge des Irakkrieges auch auf die zuvor bewunderten USA übergreife. Entgegen der Tendenz zur wirtschaftlichen Öffnung stelle sich eine geistige Verhärtung ein. Als „ressentimentgeladen“ bezeichnet der Universitätslehrer seine Studenten. Die meisten seien von einem „fanatischen Nationalismus“ verdorben, um den sich die Öffentlichkeit und das politische System nicht kümmerten.

Das klingt sehr bitter. Doch steckt dahinter nur die Resignation eines Denkers, der sich angesichts der chinesischen Entwicklung um sein Demokratie-Ideal betrogen sieht? Oder ist er ein nüchterner Beobachter?

Wei und Deng, die beiden aufstrebenden Frauen, geben da völlig ungeniert Auskunft: „Natürlich müssen wir aufstehen und unsere Macht in der Welt ausdehnen“, meint Deng. Die chinesische Regierung sei ihr außenpolitisch viel zu soft. „Wenn ich an die Daiyoutai-Inseln denke, werde ich jedes Mal wütend“, sagt die Studentin und erinnert an den Territorialstreit zwischen China und Japan um eine kleine Inselgruppe im Ostchinesischen Meer, welche die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg Japan überließen.

Noch ein weiteres Unbehagen stößt Deng und Wei auf: „Wir fühlen uns von den Amerikanern militärisch eingekreist.“ Von Japan und Südkorea über Taiwan bis Afghanistan hätten die USA Truppen und Waffen stationiert. Darüber müsse man öffentlich mehr reden.

Hier sehen Wei und Deng den Unterschied zwischen ihrer Generation und der von 1989: „Vor 15 Jahren verfügten die Studenten nur über Wut und Redegewalt. Wir heute haben die Macht, erst nachzudenken und dann die Dinge zu ändern.“ Sprechen so „fanatische Nationalisten“?

Xiong Wei zählt jedenfalls nicht zu ihnen. Der jungdynamische Sportlertyp mit breiter Brust ist Doktorand beim Institut für internationale Beziehungen der Peking-Universität. Er trägt ein blaues T-Shirt mit dem Logo der New Yorker Polizei – aus Solidarität mit den Opfern der Terroranschläge vom 11. September. Seine Doktorarbeit wird von der deutschen Sicherheitspolitik nach Ende des Kalten Krieges handeln. So stehen Xiongs Gedanken ganz in der Tradition seiner Universität – nach Westen ausgerichtet.

Statt einer größerer Machtausdehnung wünscht sich Xiong mehr Demokratie für China: „Viele sagen, dass Demokratie helfen kann, die Korruption in China zu bekämpfen“, erzählt der Doktorand. Doch trotz dieser Sichtweise aber fühlt sich Xiong der Demokratiebewegung von 1989 nicht verpflichtet. Im Gegenteil: Wie seine jüngeren Kommilitoninnen Wei und Deng ist auch er die „gute Rhetorik“ und „Emotionalität“ von damals leid.

Heute könne man über Demokratie in China viel vernünftiger reden: Statt über eine Revolution, spricht man nun von einem Prozess. Statt wie früher nur normative Regeln für die Allgemeinheit zu diskutieren, halte man heute nach demokratischen Lösungen für konkrete Probleme Ausschau. Zum Beispiel in Sachen Korruption. Auch in der Bauernfrage und den Rechten der Wanderarbeiter komme die Demokratiedebatte voran.

Insofern strahlt Xiong das aus, was man von der Peking-Universität angesichts des Wirtschaftsbooms eigentlich erwartet: einen weltläufigen, aufgeklärten Optimismus. Und doch teilt auch Xiong den Pessimismus des Kerzenlichtprofessors.

„Wir müssen unsere Macht in der Welt ausdehnen“

„An einem außenpolitischen Institut wie unserem ist die Stimmung natürlich anders, aber viele Studenten halten die chinesische Politik heute tatsächlich für zu schwach“, sagt Xiong. Auch er kann sich dieses Phänomen mit dem Internet erklären: Dort würde sich jedes Thema wie von selbst hochschaukeln. Ohne Filter und ohne jede emotionale Hemmung würden sich die Studenten im Netz politisch ereifern. Das Ergebnis wären allzu oft abstruse Großmachtsfantasien.

Ihnen aus der virtuellen Realität ins Campusleben nachzuspüren, ist nicht schwer. An der Guanghua Management School, für die nur die Studenten mit den besten Noten aus ganz China zugelassen werden, scheint das neue Nationaldenken besonders weit verbreitet.

Von wegen Tiananmen-Gedanken. „Bismarck musste damals auch die Arbeiterbewegung unterdrücken“, rechtfertigt Guanghua-Bachelor Li Ke das Geschehene. Heute aber befinde sich China zwischen Japan und den USA unter ähnlichem Druck wie seinerzeit Deutschland zwischen Frankreich und Großbritannien. „In einer solchen instabilen Lage braucht China eine ebenso starke Politik wie damals Deutschland unter Bismarck“, folgert der smarte Li.

Er steckt in Bermudas und weißem Sommerhemd und erzählt, er stamme aus einer der ärmsten Regionen des Landes, der Provinz Guizhou im äußersten Süden. Seine Eltern unternähmen alles, um seine Studiengebühren zu finanzieren. Anders als viele andere könne er von einem Auslandsstudium nicht mal träumen. Stattdessen wolle er dem Land zurückgeben, was es in ihn investiert hat und nach dem Studium wieder in die Provinz gehen. Aber man komme ihm nicht mit Demokratie. China brauche „Mut, Geduld und Weisheit auf dem Weg zu einem starken Land“. Vor 15 Jahren, während der Revolte, sei China vor allem zu schwach gewesen.

Das aber sind die Begriffe, die den Professor so stören. Platons Idee sei es gewesen, den Staat auf Wissen zu stützen. Doch in China wolle man den Staat immer noch auf Macht gründen: Da sei sich die Partei mit der Jugend von heute einig. Fragt sich nur, wie lange das Bündnis hält.

„Unsere Ideen wandeln sich ständig“, räumen Wei und Deng, die angehenden Jungmanagerinnen, ein. Vielleicht wird nicht die Vergangenheit, sondern die neue kapitalistische Wirklichkeit Chinas ihren Eifer bald einholen.