Versteck dich, sonst holen sie dich

AUS KAILEK UND KAS ILONA EVELEENS

Zwei Äste liegen auf dem frischen Grab. Sie haben dicke Dornen, damit Tiere nicht in der Erde buddeln. In den scharfen Spitzen haben sich Stofffetzen verfangen. Das Grab liegt am Rande des Ortes Kailek, er ist ausgebrannt, zerstört und verlassen. Die Erde ist übersät mit Scherben. Ein Schulheft mit einem englischen Fußballspieler auf dem Umschlag ist den Flammen entkommen, die Seiten mit arabischer Schrift flattern im Wind.

In Kailek wohnten Angehörige des Volkes der Fur, jenes afrikanischen Bauernvolkes, das der westsudanesischen Region Darfur seinen Namen gab. Sie bauten Hirse an, Obst und Gemüse und lebten davon ganz gut. Jetzt sind sie geflohen. Sie verließen ihr Dorf und ihre Felder und zogen nach Kas, einem Städtchen 60 Kilometer weiter östlich.

Es war Anfang Februar, als Milizen und Armee Kailek angriffen. „Männer auf Pferden und Kamelen kamen zusammen mit Autos voller Militär ins Dorf“, erzählt Adam Hussein, einer der Dorfältesten von Kailek. „Sie töteten jeden, der nicht schnell genug weglief: Alte, Kranke, Kinder. Ahmed abu Kamasha, der Führer der Miliz, die wir ‚Janjaweed‘ nennen, rief, er habe die Erlaubnis, uns alle zu töten. Dahinter steckt natürlich die Regierung. Sie benutzt die Janjaweed, um Afrikaner zu töten.“ Das Zuhause des alten Mannes im schmutzigen wallenden Gewand ist jetzt ein kleines Strohdach an der Mauer einer Schule in Kas.

Zwei Tage nach dem Angriff auf Kailek zog sich die Armee zurück, aber die Janjaweed-Milizen, rekrutiert aus Mitgliedern arabisierter Hirtenvölker, blieben und suchten nach Flüchtlingen in der Umgebung. „Die Frauen durften in die Ruinen ihrer Häuser zurückkehren“, erzählt Adam Hussein weiter. „Die Männer mussten sich in einen Kreis setzen, rund um den großen Mangobaum. Wir durften unsere Plätze nicht verlassen. Die Frauen konnten uns Wasser bringen, aber Essen gab es kaum, die Janjaweed hatten ja alles gestohlen. Wenn wir auf die Toilette mussten, durften wir uns nur wenige Schritte entfernen.“ Einen Monat lang wurden die Männer von Kailek festgehalten. „Jeden Tag wurden ein paar von uns aus dem Kreis geholt und hingerichtet“, fährt Adam Hussein fort. „Die Frauen wurden vergewaltigt.“

Nach 17 Tagen bekam Adam Hussein die Genehmigung, für die Gemeinschaft mit Distriktvorsteher Ahmed Ngabu zu verhandeln. „Aber der sagte, dass die Bevölkerung in Dorf bleiben muss – wie auch die Janjaweed.“ Die kollektive Geiselnahme endete erst, als ein ausländischer Mitarbeiter einer Hilfsorganisation die Lage entdeckte und mit Ngabu besprach. Kurz darauf zog die Janjaweed-Miliz sich zurück, die Einwohner von Kailek zogen zu Fuß nach Kas.

Jetzt sitzen in der Schule von Kas etwa zwanzig Frauen auf dem Boden. Zwei halten Babys in den Armen. Ein alter Mann greift sich an den Kopf und ruft: „Die Frauen sind alle vergewaltigt worden. Wir wissen von 76. Es waren mehrere Männer, viele Tage lang.“ Fatima ist das jüngste Opfer. Zehn Tage lang wurde die 15-Jährige von fünf Janwajeeds immer wieder vergewaltigt. „Sie nahmen mich gefangen, nachdem ich aus Kailek geflohen war. Als ich zurückkam, war das Dorf abgebrannt und die Janjaweed hatten meinen Vater ermordet“, sagt Fatima. Wenn ihre Vergewaltiger Pause machten, fesselten sie das Mädchen an Händen und Füßen, damit sie nicht weglaufen konnte. „Ich konnte nichts tun, sie hatten ja Waffen.“

Nach zehn Tagen ließen die Janjaweed von ihr ab, Fatima konnte anschließend weder stehen noch sitzen. Nachbarn sagten ihrer Mutter Bescheid, die sie nach Hause trug. Ein wenig geniert sagt das Mädchen: „Der Schmerz ist jetzt weniger, aber ich habe keine Kontrolle mehr über mein Pinkeln.“

Neben Fatima sitzt die 35-jährige Khadia. Ihre älteste Tochter ist in Fatimas Alter, „aber sie ist Gott sei Dank verschont geblieben“, sagt die Mutter. Sie flüstert: „Aber mich haben die Janjaweed sich gegriffen. Vier Männer haben mich zehn Tage lang vergewaltigt. Ich bin im dritten Monat schwanger, die Vergewaltigung war eine Folter. Die Janjaweed machen das nur mit Fur-Frauen, nie würden sie mit ihren eigenen Frauen, Schwestern oder Töchtern so etwas tun.“

Verlassene Dörfer säumen die Sandpiste zwischen Kas und Kailek. Am Rande von Bromga, einem ebenfalls zerstörten Ort, gibt es einen Markt. Im Angebot: Vieh, farbenfrohe Kleider, Datteln. Die meisten Händler scheinen arabisierte Einwohner von Darfur zu sein. Für Außenstehende ist der Unterschied zwischen dem, was in Darfur „Afrikaner“ und „Araber“ heißt, kaum wahrzunehmen, auch nicht an der Hautfarbe, die bei beiden Gruppen alle Schattierungen von Hellbraun bis Blauschwarz hat.

Ein junger Mann versucht uns auf Englisch anzusprechen. „Geheimnisvolle Sachen sind in Kailek passiert“, sagt er im Vorbeigehen. Ein Verkäufer auf dem Markt ruft ihm „Lügner!“ zu und holt Hafez Medien, den Distriktbeamten für humanitäre Angelegenheiten. Der spricht drohend mit dem Jugendlichen. Den Behörden liegt viel daran, die ihrer Meinung nach korrekte Version des Geschehens zu vermitteln: nämlich dass die Rebellen der Sudanesischen Befreiungsarmee SLA an allem schuld sind.

Die Flüchtlinge in Kas richten sich derweil auf die nahende Regenzeit ein. Ein paar alte Männer und Frauen sammeln Holz, um daraus Hütten zu bauen. Nicht einmal dabei sind sie allein: In Sichtweite sitzt eine Gruppe Janjaweed im Schatten. „Natürlich haben wir Angst vor denen“, sagt ein grauhaariger Mann, während er Holz aus dem Sand klaubt. „Gestern haben sie noch mit Steinen nach uns geworfen. Aber wir haben keine Wahl, uns fehlt das Geld für Bauholz.“

Sudans Regierung hat Darfurs Vertriebene aufgerufen, heimzukehren und ihre Äcker zu bestellen. Aber die Menschen von Kailek weigern sich. Sie wollen Sicherheitsgarantien: ausländische Beobachter. Und sie fordern Wiedergutmachung von der Regierung für ihr zerstörtes Hab und Gut. In Kas fühlen sie sich noch halbwegs sicher, auch wenn außerhalb der Stadtgrenzen ab und zu immer noch Fur von Milizionären ermordet oder vergewaltigt werden. Und sie wissen, das Musa Hillal, der Chef der Janjaweed, vor kurzem den Distriktvorsteher von Kas besucht hat.

Die Behörden in Kas versichern, dass Kailek wieder sicher ist. Aber keine Polizei oder Armee ist dort zu sehen. Unterwegs gibt es bloß bewaffnete Männer auf Pferden und Kamelen: die Milizen. In der Totenstille von Kailek wohnen jetzt nur zwei kranke Esel, vier magere Hunde und schwarzweiße Ibis-Vögel, die die fliegenden Ameisen fressen.