Kontemplation in Ewigkeit

Der genaue Kenner der Angestelltenwelt, der Flaneur, der unerwartete Publikumserfolg, der große Preis: Der Frankfurter Schriftsteller Wilhelm Genazino erhält in diesem Jahr den Georg-Büchner-Preis

VON GERRIT BARTELS

Als Wilhelm Genazino vor drei Jahren mit seinem Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ ausgerechnet vom Literarischen Quartett entdeckt wurde, sorgte das allerorten für eine gelinde Überaschung. Das große Publikum war überrascht, weil es Genazino überhaupt nicht kannte – obgleich der 1943 in Mannheim geborene Schriftsteller seit Anfang der Siebzigerjahre regelmäßig Romane veröffentlicht und in den späten Siebzigerjahren mit seiner „Abschaffel“-Trilogie präzise die Welt der kleinen, vor allem männlichen Büroangestellten beschrieben hatte.

Und der Literaturbetrieb wunderte sich, dass Genazino mit „Ein Regenschirm für diesen Tag“ tatsächlich Erfolg an den Buchhändlerkassen hatte – so leise war das Buch, so fein hingetuscht war es. Und so sehr standen die hochgradig verfeinerten Flaneure auch im Mittelpunkt seiner in den Neunzigerjahren entstanden Romane, so sehr erfreuten die sich eines Lebens „inmitten von bedeutungslosen Augenblicken“, wie es in seinem Roman „Die Kassiererinnen“ heißt. Die Kritik glaubte nicht, dass sich in Genazinos Figuren ein größeres Publikum wiederfinden könnte. Auch sie fand zuweilen in seinen neueren Büchern eine „Vielzahl belangloser Momentaufnahmen“ oder „bedeutungsloser Prosabausteinchen“, bevor sie ihn Ende der Neunzigerjahre endgültig für sich entdeckte.

Doch wie das manchmal so ist bei Schriftstellern und Künstlern, die lange und tapfer im Verborgenen arbeiten: Auf einmal sind sie en vogue, auf einmal sind sie Lieblinge des Publikums und der Kritik gleichermaßen. Der Georg-Büchner-Preis, den Wilhelm Genazino in diesem Jahr zugesprochen bekommt, einer der bedeutendsten und mit 40.000 Euro dotierten deutschen Literaturpreise, ist da fast eine nur logische Konsequenz.

Seit 2001 gehört Genazino, der im Übrigen selbst Mitglied der preisverleihenden Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt ist, mit seinen so angenehm leicht und schwebend wirkenden Büchern zu den literarischen Schwergewichten des Landes. In einer auffälligen Parallelbewegung zum Abschwung der schnellen und schnell erzählten Zeitgeist- und Popliteratur ist er seit diesem Jahr ein Schriftsteller, dessen Werk in voller Gänze wiederentdeckt wird und dem man nur allzu gern eine lange Haltbarkeitsdauer prophezeit.

Wilhelm Genazino ist ein Mythologe des Alltags. Seine Figuren, kleine Angestellte, Schuhtester, aber auch arbeitslose Intellektuelle, sind meist ein wenig angeschlagen und Leid gewohnt. Das aber hält sie nicht davon ab, sich in alltäglichen Details zu ergehen, ja sich gerade in ihnen zu verlieren und am Wegesrand der großen Städte die tollsten Wahrnehmungen zu machen. Sie sind Wiedergänger von Franz Hessels oder Robert Walsers Flaneuren und Eckenstehern, sie sind unermüdlich Liebessuchende und Traumverlorene, sei das nun in den von Adenauer geprägten Fünfzigerjahren oder den vergnügungssüchtigen Neunzigerjahren. Selbst im größten Scheitern versuchen sie noch das „Grauen der Normalität“ durch „Lebenskunst“ zu ersetzen.

So versteht es Wilhelm Genazino, in seinen Büchern kleine Dinge groß zu machen. Kontemplation in Ewigkeit. Trostbücher für eine ungewisse Zukunft.