Waldbetroffenheitsbereich

Alltag und Geschichte eines Flughafens: Die Theatergruppe Rimini Protokoll mit ihrer theatralen Installation „Weil der Himmel uns braucht: Brunswick Airport“ beim 7. Festival Theaterformen

VON JENS FISCHER

„Developing Area Brunswick Airport – wer hilft mit?“ Rauschen. Zischelnde Inspirationsfunken im Äther. „Wir haben da eine Idee! Over.“ So mag die Leitung des 7. Theaterformen-Festivals den Braunschweiger Politikern zurückgefunkt haben. Suchte man doch eine neue Projektidee für das Autoren-Regie-Kombinat Rimini Protokoll, das europaweit zum Liebling der Intendantenzunft avanciert ist. Sucht das Absolvententrio des Gießener Instituts für angewandte Theaterwissenschaft doch immer eine Beziehung zur Stadt, in der es arbeitet. Mit Darstellern, die Spezialisten ihres Alltags genannt werden: Menschen also, die als sie selbst auftreten.

Auf der Suche nach der verlorenen Aura des Authentischen sollen Wirklichkeitsfragmente möglichst pur in einen Kunstkontext verrückt werden. Um dem wirklichen Publikum wieder den Blick für die wirkliche Welt zu schärfen. Waren es bisher vornehmlich gesellschaftliche Systeme und Rituale, die untersucht wurden, steht jetzt erstmals ein Ort im Mittelpunkt. „Weil der Himmel uns braucht: Brunswick Airport“, so der Titel der theatralen Installation.

Das Motto der deutschen Flugsicherung, die in Braunschweig beheimatet ist, in Verbindung mit dem Internationalität verheißenden „Brunswick Airport“: Ironie oder PR-Poesie? Denn zu dem verwunschenen und vergessenen Ort, Haltestelle „Flughafen“, reisen derzeit keine globetrottenden Touristen, sondern Einheimische. Am Wochenende tummeln sie sich dort zum Picknick, um Papa beim Segelfliegen oder Fallschirmspringen zuzuschauen. Rundflüge über die Heimat sind buchbar. Schöne Beschaulichkeit. Wochentags dann die Umwidmung zum VW-Flughafen, der die 15 Autominuten entfernten Produktionsstätten mit denen in Posen (Škoda), Ingolstadt (Audi) und der Niederlassung in Prag verbindet. Weswegen am Braunschweiger Flughafen auch nicht die Braunschweiger Zeitung, sondern nur die Wolfsburger Allgemeine ausliegt. In der Abflughalle wie in neun weiteren menschenleeren und meist unmöblierten Räumen hängen CD-Player. Zu Wort kommen Menschen, die etwas über den Ort erzählen. Meist unstrukturierte Plaudereien – wie im echten Leben. Häufig auch unverständlich, weil auf erklärend auktoriale Zwischentexte verzichtet wird. Der Kunstbetrachter lauscht – und sieht nichts. Fliegen sollen hier die Gedanken und die Fantasie.

Hereinspaziert, hereinspaziert – wie am Tag des offenen Denkmals. Erstmals darf der Flughafen vom Dachboden bis zum Keller durchstöbert und dabei auch etwas über das bisher wenig öffentliche Treiben im Gewerbepark erfahren werden. 40 luftfahrtbezogene Betriebe, Forschungsinstitute und Behörden haben sich dort angesiedelt. Im Flughafen kann man nun per Kopfhörer der Geschichte eines Mannes lauschen, der mit diesen jahrmarktstauglichen Rüttelmaschinen namens Flugsimulatoren arbeitet. Der Black-Box-Fachmann der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung räumt mit einem Vorurteil auf – betreffs Piloten kurz vorm Crash: „Viele meinen, dass dann der letzte Schrei kommt, aber das kommt fast nie vor – ganz, ganz selten.“

Unter die Aussage mischen die Rimini-Protokollanten säuselnde Betroffenheitssounds. Während die Worte der anderen Zeugen des Ortes auf synthetischem Geblubber tänzeln. Die Kopie der Realität ist also deutlich als Manipulation zu erkennen. Auch die Schnitte der O-Ton-Collage sind deutlich hörbar gemacht, so, dass sie von keiner Rundfunkanstalt gesendet würden. Aber gerade so entsteht Spannung zwischen dem Dokument und seiner Inszenierung. Gerade daher darf man die Rimini-Arbeit neu bewerten: als Journalismus. Akribische Recherche unkommentiert darstellen. Dabei vermitteln die Reportagekünstler den sympathischen Eindruck, als würden sie die Befragten wirklich ernst nehmen. Nur so ist der vertrauensvoll beiläufige Redefluss zu erklären, in dem sich die Theatralität des Alltags ausdrückt. Etwa wenn der Zoologieprofessor von den Vögeln des Flughafenareals und der Technikfreak von der Ästhetik der fliegenden Kisten schwärmt.

Wenn der Flughafengeschäftsführer von „Aufbruchstimmung“ und „Waldbetroffenheitsbereich“ spricht, ist aktuelles politisches Theater mitgemeint. Heftig gestritten wird gerade darum, dass die Startbahn von gegenwärtig 1.800 auf 2.600 Meter verlängert, der Forschungs- zum Charter- und Linienflughafen ausgebaut, 100 Hektar Forst geopfert werden soll. Auch verdrängte Geschichte bleibt nicht ganz verdrängt. Wenn Flughafenanwohner über die einstigen Spargelfelder vor ihrer Haustür berichten – auf denen später JUs gebaut wurden. Der Braunschweiger Flughafen sieht aus wie Klein-Tempelhof – und ist als Nazi-Prestigeobjekt 1934/36 erbaut, ab 1939 nur militärisch genutzt worden. Es soll sogar ein Göring-Zimmer geben, in dem der Reichsmarschall auf den Flieger nach Berlin gewartet haben soll. Im Gebäude des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums forscht heute ein Unternehmen an der Software zum Flughafenmanagement.

All das muss als Wissen mitgebracht werden. Die Projektkünstler stehen eher in der Tradition der Oral History denn des dokumentarischen Theaters. Bei ihnen wird nicht nachgefragt, nicht interpretiert, sondern zugehört. Und der Ort der Recherche mit den Rechercheergebnissen bespielt. Alltag im Theater? Theater im Alltag? Jedenfalls wird der Alltag eines Ortes öffentlich und dieser menschlich erfahrbar.