Die Neue Übersichtlichkeit

Der Schwanengesang eines Claus Koch, der Lackmustest eines Jürgen Habermas und der Auftritt eines Frank Schirrmacher bei „Verstehen Sie Spaß?“: Ein Versuch über die veränderte Rolle des kritischen Intellektuellen in der zeitgenössischen Gesellschaft

Der kritische Intellektuelle rennt heutzutage viele offene Türen ein

VON DIRK KNIPPHALS

Manche Menschen, Adorno etwa, glauben, Intellektuellen sei eine gewisse Selbstunsicherheit von Berufs wegen eingebaut – weil sie nämlich aus den Selbstverständlichkeiten ihrer Zeit herausgefallen sind und nur so tiefer zu sehen vermögen als die meisten ihrer Zeitgenossen. Das war schon immer nur halb einsichtig. Unsereiner jedenfalls kennt Intellektuelle, die mit geradezu unverfrorener Unerschütterlichkeit Selbstverständlichkeiten zu wichtigtuerischen Statements aufblasen und zugleich unglaublich bräsig über heikle Dinge wie Exil und Außenseitertum reden können.

Was aber wirklich immer wieder auffällt: dass in der Zunft immer noch wenig Gelassenheit der eigenen Rolle gegenüber herrscht; seltsam eigentlich, denn die großen Schlachten um die Intellektuellen („Ratten und Schmeißfliegen“) sind bekanntlich vorbei. Oder ist genau das das Problem?

Der Publizist Claus Koch jedenfalls hat neulich beklagt, dass die kritischen Intellektuellen leider aussterben würden; an ihre Stelle seien die Moderatoren und Experten getreten. Nun kann man diesen Beitrag als ein weiteres Beispiel der unverwüstlichen Textgattung des Schwanengesangs in eigener Sache abheften – man kann ihn aber auch einen Moment lang ernst nehmen, denn es stimmt ja: Eine bestimmte Gruppe von Intellektuellen hat zuletzt Bedeutungsverluste hinnehmen müssen. Koch nennt als herausgehobenes Beispiel Peter Handke, „der im Serbienkrieg ziemlich verrückt, aber mit starker persönlicher Stimme Partei ergriffen hatte“; dieser Typus, so Koch, könne in den Medien heute „kaum noch vorkommen“. Aber ist das wirklich so schlimm? Man kann es ja auch als Beispiel dafür werten, dass mittlerweile auch mit der Figur des kritischen Intellektuellen kritisch umgegangen wird. Koch dagegen scheint es allein darum zu gehen, dass ein Intellektueller leidenschaftlich und lautstark seine Stimme gegen die „Verwilderungen der Gegenwart“ (Koch) erhebt.

Man könnte meinen, dass das der Öffentlichkeit nun nicht mehr ausreicht und andere Kriterien hinzukommen müssen – etwa diejenige, ob der jeweilige Intellektuelle Recht hat oder nicht mit seinen Behauptungen. Im Übrigen ist es auch keineswegs so, dass kritische Intellektuelle gar nicht mehr in den Medien vorkommen– nicht allein die auf Regalmeter angewachsene USA- oder auch nur Bush-kritische Literatur der jüngsten Zeit bezeugt eher das Gegenteil. Wie oft zuletzt McKinsey und der Neoliberalismus entlarvt wurden, geht auf keine Kuhhaut.

All das scheint Koch – und er steht mit dieser Ansicht keineswegs allein – nicht zu reichen. Warum nicht? In einer noch in den Achtzigerjahren viel zitierten, mittlerweile aber offensichtlich leider wieder aus dem Blickfeld geratenen Wendung hat Michel Foucault von der „Sehnsucht so mancher nach den großen ‚universalen‘ Intellektuellen“ gesprochen. Vielleicht ist es diese Sehnsucht, die Koch umtreibt. Foucault allerdings meinte die Wendung negativ. Den besonderen Typus des Intellektuellen, den Koch vermisst, hatte Foucault damals bereits verabschiedet. An die Stelle des „universalen“ Intellektuellen, der von einer Position des Allgemeinen aus seine Stimme erhebt, hatte der Diskurstheoretiker die Figur des „spezifischen“ Intellektuellen gesetzt, der sich in einem Bereich gut auskennt und sich bemüht, in diesem Bereich gewissenhaft mit den Begriffen von Wahrheit und Macht umzugehen. Kurz: Er hatte seine Hoffnungen auf genau jene Experten gesetzt, deren Herrschaft Koch inzwischen missfällt.

Wie immer man zu Foucaults Machttheorie im Ganzen steht, seine Wendung vom universalen zum spezifischen Intellektuellen bezeichnet einen Punkt, von dem aus, so scheint es, immer noch Unsicherheit über die Rolle der heutigen Intellektuellen ausgeht: Real ist diese Wendung längst vollzogen – keine intellektuelle Karriere kann sich noch auf einen Einspruch gegen das große Ganze gründen; das öffentliche Bild vom kritischen Intellektuellen ist aber noch nicht mitgekommen und verlangt immer noch vor allem diesen Einspruch, und das seit dem Bush-Wahlsieg und seit dem Irakkrieg sogar wieder vermehrt.

Wer sich, solcherart sensibilisiert, derzeit ein wenig umguckt, dem kann etwa ein Absatz aus dem Vorwort von Jürgen Habermas’ gerade erschienenem Band kleiner politischer Schriften auffallen. Deutschlands berühmtester Philosoph spricht darin von einem „Lackmustest“. Was zunächst wie eine schlichte Beschreibung aussieht, muss man auf den zweiten Blick als Versuch interpretieren, das eigene Expertenwissen mit den Sehnsüchten nach engagierter Intellektualität zu versöhnen. Habermas schreibt: „Heute zerfällt die chemische Verbindung, aus der die Westorientierung der Bundesrepublik seit Adenauer bestanden hat, in ihre beiden Elemente: Unverkennbar scheidet sich die opportunistische Anpassung an die hegemoniale Macht, die Europa während des Kalten Krieges unter ihren atomaren Schirm genommen hat, von der intellektuellen und moralischen Bindung an Prinzipien und Grundüberzeugungen einer westlichen Kultur, der sich das normative Selbstverständnis einer schließlich liberal gewordenen Bundesrepublik verdankt.“

Lackmustest? Würde man ihn nicht als diskurstaktisch einschätzen, käme dieser Absatz seltsam aus dem Nichts. Dass die opportunistische Anpassung an die Hegemonialmacht USA zu den Grundströmungen unserer Öffentlichkeit gehört, darf man jedenfalls mit guten Gründen bestreiten; selbst die CDU hatte damit so ihre internen Probleme. Dass es angesichts eines schlechten amerikanischen Präsidenten an der Zeit ist, sich um die Fahne unserer liberalen Grundüberzeugungen zu scharen, darf auch bezweifelt werden. Die stehen in unserer hausgemachten Diskussion um die Zuwanderung viel mehr auf dem Spiel. Man muss diesen Punkt nicht überstrapazieren, zumal der Versuch legitim ist, seine theoretischen Überlegungen im Vorwort auch einem an praktischen Nutzanwendungen interessierten Lesepublikum interessant zu machen. Aber festzuhalten bleibt, dass Habermas etwas bemüht versucht, seine politiktheoretischen Ausführungen in einen angeblich tobenden Kulturkampf einzubetten. Hätte er Recht, stünde er gut da: als Verteidiger moralischer Prinzipien und westlicher Grundüberzeugungen – und die anderen, das wären die Opportunisten. Nur dass die einbettende Erzählung nicht überzeugt: Sie wirkt ein wenig ausgedacht. Was Habermas hier auf ganz hohem Niveau versucht, kann man derzeit vielerorts und gelegentlich nicht ganz so sublim beobachten: von der Gleichsetzung von zehn Euro Praxisgebühr mit Neoliberalismus bis hin zu Michael Moores amerikanischer Gegenpropaganda – die Realität wird ein bisschen zurechtgeknetet, sodass man sich in ihr bequem als leidenschaftlich kritischer Intellektueller verorten kann. In den Achtzigerjahren, als alle Welt die Poststrukturalisten rezipierte und Habermas noch die Neue Unübersichtlichkeit beschrieb, machte gerade dieser Punkt Foucaults Überlegungen so attraktiv: Das Sich-in-die-kritische-Pose-Werfen der universalen Intellektuellen wurde als Versuch decouvrierbar, sich selbst herausgehobene Diskurspositionen zu sichern. Der Verdacht war, dass, wer als universaler Intellektueller bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Erster J’accuse sagte, nur auf die besten Plätze an den Mikrofonen schielte. Und den Opportunismus der anderen anzuprangern macht sich auch immer gut – sagt aber wenig über den spezifischen eigenen Ansatz.

Es gab damals im Gefolge Foucaults noch ein zweites Argument gegen die Figur des leidenschaftlichen universalen Intellektuellen, das man dann doch in die Nach-11.-September-Zeit hinüberretten sollte. Diese Figur, so besagt es, ist an eine bestimmte Formation von Öffentlichkeit gebunden; im Grunde geht sie von einem Publikum aus, dem erst zu Einsicht und Selbsterkenntnis verholfen werden muss. Ein aufrüttelnder, anklagender Stil macht nur Sinn, wenn er sich nicht nur an die Macht, sondern auch an ein den Erfordernissen der Zeit gegenüber offenbar unempfindliches Publikum richtet.

Aber ist das Publikum noch unempfindlich? Die Riesendemonstrationen gegen den Irakkrieg und auch gegen die Agenda 2010 beweisen eher, dass es inzwischen keine universalen Intellektuellen mehr braucht, um sich zu engagieren und zu empören. Vielmehr muss heute jeder kritische Intellektuelle mit der Gefahr umgehen, nur noch offene Türen einzurennen. Dafür hat es neulich ein schlagendes und auch lustiges Beispiel gegeben: Frank Schirrmachers unfreiwilliger Auftritt bei der Fernsehsendung „Verstehen Sie Spaß?“. Von den Feuilletons war der Herausgeber der FAZ ja sehr dafür gescholten worden, dass sein neues Buch „Der Methusalem-Komplex“ sich geradezu wie eine Parodie auf die Figur des leidenschaftlichen universalen Intellektuellen liest.

Tatsächlich enthält das Buch vom notwendigen Bewusstseinswandel bis hin zum Untergangsszenario alle Gassenhauer aus den einschlägigen diskursiven Arsenalen, grundiert mit allen Stilmitteln einer Wachrüttelrhetorik. Claus Koch aber müsste begeistert sein. Und dem Publikum gefällt’s: Das Buch ist ein Riesenerfolg. Aber dass man sich mit der Pose eines einsamen Rufers in der Wüste inzwischen den Promistatus erarbeiten kann, der es einem erlaubt, sich von einer zentralen Fernsehsendung der Spaßgesellschaft verarschen zu lassen, das verdient doch als bemerkenswert festgehalten zu werden. Der kritische Intellektuelle auf einer Höhe mit Rennfahrern und Popsängerinnen! Ob das zu einer neuen Gelassenheit der Intellektuellen ihrer gesellschaftlichen Rolle gegenüber beiträgt? Unwahrscheinlich.