Der schwere Duft der Peripherie

Am vergangenen Wochenende brutzelten Gäste aus 23 Nationen um den Titel des Grillweltmeisters – in einem der traurigsten Städtchen Deutschlands

AUS PIRMASENS CLEMENS NIEDENTHAL

Peripherie, so hat es die Raumsoziologie unlängst attestiert, sei längst und letztlich überall. Dem mag gewiss so sein. Und doch hat die Raumsoziologie ihren Diskurs ohne Pirmasens gemacht. Denn in Pirmasens wird die Peripherie noch peripherer. In Pirmasens meint man auch an einem sonnigen Junisonntag noch im Schatten jenes Bretterzauns zu stehen, der einem Gassenhauser gemäß das Ende der Welt begrenzt. Ein Bretterzaun „mitten in der Südwestpfalz“. Gezimmert mit Pfälzer Brettern aus dem Pfälzer Wald. Dasselbe Holz, aus dem früher einmal die Leisten gehobelt wurden. Auf denen wurden dann Schuhe produziert, in denen bald ein ganzes Land herumlief.

Später änderten sich die Märkte und die Moden, und die Schuhe aus der Pfalz wurden zum Auslaufmodell. Den Menschen in Pirmasens blieb kaum mehr als ein Schimpfwort: „Pirmasenser Schlappenflicker“, was im örtlichen Idiom noch abwertender klingt: „Bemmesenser Schlabbefligger“. Außerdem eine Arbeitslosenquote, längst genauso hoch wie am anderen, östlichen Ende der Republik. Und eine Schuhprinzessin, Sandra die Erste. Mitten in der Südwestpfalz muss sich eine Prinzessin an den alten Erfolgsgeschichten festhalten, auch wenn der Schuh, um im Bild zu blieben, längst drückt. Oder, umgekehrt, ein paar Nummern zu groß geworden ist.

An einem Ort wie Pirmasens gehört Fantasie dazu, sich selbst und der Stadt eine Mitte zu imaginieren. Auch, wenn es sich nur um die Mitte der Südwestpfalz handelt. Und die Nordostpfalz wahrscheinlich schon wieder andere, eigene Mitten kennt. Die Barbecue-Welt immerhin kannte am Wochenende nur eine Mitte. Auf dem Pirmasenser Messegelände, bezeichnenderweise das Areal einer ehemaligen Schuhfabrik, wurden die sechsten Grillweltmeisterschaften ausgetragen. Vor einem Jahr noch grillte die Weltgrillelite auf Jamaika um die Wette. Und kürte den Flamen Thimothy Bleeckx zu ihrem Besten. Einen Sternekoch, zu Hause in der Haute Couisine, nicht auf dem Campingplatz.

Und so war Pirmasens an diesem Wochenende mindestens auch das: ein Ort der Missverständnisse und der offensichtlichen Diskrepanzen. Eine Schuhprinzessin, der längst die Schuhe und die dazugehörigen Produktionsstandorte abhanden gekommen sind. Eine Grillweltmeisterschaft, die mit den Lebens-, respektive Grillwelten ihrer – doch, doch – zahlreichen Besucher nicht wirklich viel gemein hatte. Und eine von Strukturwandel und Rezession geplagte Stadt, die sich ihr Spektakel in der Ferne einkauft.

Verantwortlich für die Grillweltmeisterschaften, und so einen Verband gibt es tatsächlich, ist die World Barbecue Association. Ein stolzer Weltverband, mit einer aufstrebenden Industrie im Rücken. „Edle Barbecue- Öfen“, so versichert zumindest Thomas Schubnell, Importeur amerikanischer Grillgeräte, „erleben in Deutschland gerade einen riesigen Boom. Ihr Absatz verdoppelt sich Jahr für Jahr, mindestens!“ Edle, amerikanischer Barbecue-Öfen erinnern ein wenig an George W. Bushs Wochenenddomizil und können auch schon mal 3.000 Euro teuer sein. Befeuert werden sie nicht mit Grillkohle, sondern mit Holz. Gerne heimische Obsthölzer, gerne ein paar Jährchen trocken gelagert. Und überhaupt wird auf edlen Barbecue-Öfen nicht einmal gegrillt, sondern, mit indirekter Wärmezufuhr, gegart.

Nach Gründen für jenen „riesigen Boom“ braucht der Grillimporteur übrigens nicht lange suchen. Es sei schlicht das Rohe im Manne, das nach der Gesellschaft von rohem Fleisch verlangt. Grillen sei das „das letzte Hobby, das wir Männer noch haben“. Gerade in Tagen, so Schubnell, sichtlich von seiner Analyse überzeugt, „in denen das Autofahren längst viel zu teuer geworden ist und die Frauen zu anstrengend“.

Willkommen also im Schattenreich der Kollektivmythologie. So oft und auf so vielen Kanälen haben Psychologen und Sozialwissenschaftler in den vergangenen Jahren die Grillsteaks gedreht und gewendet, dass die dabei entworfene Dialektik des Grillens längst auch bei einer Grillweltmeisterschaft allgegenwärtig ist. Als Marketingstrategie des Grillimporteurs auf der einen, als stolzes Selbstbekenntnis eines Grill-Adjutanten auf der anderen Seite. Der heißt Andreas Rummel, kommt aus Neustadt im Südharz und ist Absolvent der 1. Deutschen Grillschule Erfurt, deren Initiator Hans-Joachim Fuchs auch mit einem Team nach Pirmasens gekommen war.

Eine Schule ganz anderer Art ist die Universität Freiburg, an der man der Dialektik des Grillens seit drei Jahren ein eigenes Forschungsprojekt widmet: „Grillen und Lebensstil“. Um dabei unter anderem zur Erkenntnis zu gelangen, dass am Grillrost mit Beute hantiert und männliche Urinstinkte geweckt würden. „Die Arbeit mit rohem Fleisch wird als eindeutig männlich und archaisch empfunden“, lässt sich Nina Degele, Professorin für Soziologie und Geschlechterforschung, diesbezüglich zitieren. Und es scheint vor allem ihr Forschungsgegenstand selbst zu sein – die überwiegend männlichen Grillkäufer und Grillnutzer –, der Gefallen an dieser Analyse gefunden zu haben scheint. Ein, aber das nur am Rande, in den Sozialwissenschaften nicht gerade übliches Phänomen.

Von der wissenschaftlich attestierten archaischen Triebhaftigkeit war in Pirmasens ohnehin nur wenig zu spüren. Hier grillte kein freudianisches Es, kein aus dem Neandertal in die Spätmoderne gerettetes Unterbewusstsein. Hier grillten allesamt virtuose Könner ihres Metiers, die die einzelnen Garzeiten ihrer fünfgängigen Menüs schon mal im Laptop programmierten. Und die ihre Arbeitsabläufe so minutiös einstudiert hatten wie das Boxenteam eines Formel-1-Rennstalls.

Gefülltes Zucchiniboot mit Filets von Seeteufel, Lachs und Wolfsbarsch an Fenchelrahmsauce mit Seesternkartoffeln nannten sich beispielhaft die lecker klingenden Ergebnisse dieser Mühen. In deren Genuss die vom Veranstalter ausgemachten 80.000 Besucher freilich kaum kamen. Nur einige wenige hatten das Glück, Weltmeisterliches naschen zu dürfen. Allen anderen blieb nur der Bratwurststand, das profanere Geschmackserlebnis. Und die aufmunternden Worte von Pro7-Sternekoch Ralf Zacherl, auf dessen privatem Grill auch mal „nur Würstchen“ liegen. Zacherl gab den volksnahen Popstar unter den Grillmeisterschaftsanwärtern. Dessen MTV-Attitüde verwies zumindest noch auf das, als das Grillen, zumal in öffentlichen Grünanlagen, auch noch gelesen werden kann: als der Punkrocker unter den Nahrungszubereitungen.

Ein Besucher immerhin sollte aus dem Missstand heraus, all den Grillvirtuositäten nur als Zaungast begegnen zu dürfen, seine ganz persönliche subversive Taktik ableiten. Gemächlich schob er sich von Stand zu Stand, nur um immer wieder ein lakonisches „Gell, is verbrennt“ fallen zu lassen. Der lokale pfälzische Dialekt als identitätsstiftende Stichelei gegen eine globale Grillweltmeisterschaft. Keine Frage, hier hatte jemand seinen Spaß, seinen ganz eigenen zudem.

Und was bleibt Pirmasens? Was bleibt von einer Veranstaltung, die ein Teilnehmer aus Estland, der sympathische Allan Kuning, vielleicht gar nicht mal so falsch als „like the european song contest, only with meat“ bezeichnet hat? Die Pirmasenser Messe zum Beispiel lädt kommende Woche zur Reptilien-Börse. Und vielleicht wird dann auch wieder Sandra die Erste durch die Messehallen schlendern und die eine, einzige Frage beantworten: wie man denn eine Schuhprinzessin wird. In einer Stadt, die längst der Schuh drückt. Im Austragungsort der sechsten Grillweltmeisterschaft.