Alter Feind

Das SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Politik sollen doch Politiker machen – nicht Horst-Eberhard Richter oder Friedrich Schorlemmer

Am Anfang erntete er Kopfschütteln, gerade in Übersee. Ein Schauspieler? Ein Ex-Sportreporter? Präsident der USA? Filmplakate aus den 50er-Jahren wurden herausgesucht und mit Anti-Nachrüstungs-Sprüchen versehen. Waren die Amerikaner verrückt geworden?

„Der Tagesspiegel“, 7. 6. 2004

Vor allem machte er uns Angst. Er schien willens, im Konfliktfall mit der Sowjetunion Atomwaffen einzusetzen, und das genügte völlig, ihn als Feind Deutschlands und Europas – wo, wie wir zu wissen meinten, der Atomkrieg stattfinden sollte – auszuweisen. Sein Aufrüstungsprogramm ließ auf der Linken einen Nationalismus erblühen, der die Folgebereitschaft der Kohl-Regierung als Landesverrat zu verdächtigen liebte. Sein Verteidigungsminister, ein Mann namens Caspar Weinberger, sonderte Statements ab, von denen Donald Rumsfeld mit seinen Reden sich als nachdenklicher Cunctator abhebt.

Und dann die vielen Missgriffe und Irrläufer. Die lächerliche Befreiung Grenadas, die Iran-Contra-Affäre und Ollie North, wie aus einem von Tom Clancys rechtsradikalen Romanen (deren Verfilmung stets durch Harrison Ford verfeinert wird – aber wo war Harrison Ford in dieser Regierung?). Oft schien der alte Mann mit den gefärbten Haaren verwirrt, und seine routinierten Schauspielergesten, von den Kameras verewigt, saßen schlecht.

Nein, wirklich, etwas lief grundlegend falsch in den USA, wenn sie diesen abgehalfterten Filmschauspieler zum Präsidenten wählten und ihn nach zwei Amtsperioden sogar als einer ihrer größten verhimmeln. Als Kinogeher wussten wir genau, wie mittelmäßig er gewesen war; lohnenswert anzuschauen blieb einzig – wie wir immer wiederholten – „The Killers“ von 1964, wo sein enges, dummes Gesicht ohne viel Mühe die von der Rolle geforderte Kälte und Brutalität annahm. Dass er genuin freundlich, auch humorvoll war, wie selbst skeptische Reporter berichteten, wir bezweifelten es.

Und dann diese lächerliche Ehefrau mit dem antrainierten Verehrungsblick, „The Gaze“! Auch sie mittelmäßig fürs Kino tätig, bevor sie ihn heiratete – dies war vermutlich das Zentralproblem: dass sie Filmschauspieler gewesen waren. Damals grassierte in unseren Kreisen gerade der große Simulationsverdacht: Die Wirklichkeit ist verschwunden, sie wurde durch ihre Inszenierung ersetzt. Wer belegte das triftiger als der 40. Präsident der USA, das vorgebliche Oberhaupt des am weitesten fortgeschrittenen Kapitalismus? „He has to be scripted“, hieß es, er brauchte für jeden Auftritt ein Drehbuch, sonst geriet er peinlich ins Stolpern; Richard Pipes, ein hoch angesehener Sowjetologe, der zeitweise zu seinen Beratern zählte, berichtet in seinen Memoiren, wie ihre scharfsinnigen Diskussionen den Präsidenten in hilflose Verwirrung stürzten. Er konnte nicht folgen. Da kann doch auf keinen Fall der richtige Mann am richtigen Platz gewesen sein.

Aber er gewann den Kalten Krieg. Ob tatsächlich seine Aufrüstungspolitik die SU erledigte oder ob es ihre dysfunktionale Wirtschaftsweise und ihr immobiles politisches System waren, darüber sind die Experten uneins. In jedem Fall, die bleierne Zeit des real existierenden Sozialismus ging zu Ende, denn es zeigte sich, dass er zu Reformen, die ihn vitalisiert hätten, vollkommen außerstande war. Nicht Gorbatschow, der zeitweise im Westen jede Wahl gewonnen hätte, Ronald Reagan und seine Leute trugen den Sieg davon. Und sie verzichteten mit auffälliger Großzügigkeit – „so sind die Amis“ – auf jede Triumphgeste, sie ersparten der SU alle Demütigungen einer Kriegsniederlage. Doch bleibt bis auf weiteres mit dem 40. Präsidenten unauflöslich der Gedanke verbunden, dass der Realsozialismus rundherum gescheitert ist; er war auch unreformierbar, auf keine Weise in einen idealeren zu überführen.

Oft kommt es mir so vor, als wäre das in unseren Kreisen auch 15 Jahre später noch nicht so richtig angekommen. Ein folkloristischer Marxismus blüht und erklärt sich die Lage nietzscheanisch: „Das Kapital war halt stärker.“ Was einmal wie scharfsinnige Gesellschaftskritik aussah, erweist sich als religiöse Überzeugung; der Sozialismus war einfach zu gut für diese gefallene Welt. Im Übrigen beschäftigen wir uns damit, Abweichler zu beschimpfen, „wenn wir schon den Sozialismus nicht kriegen, wollen wir wenigstens alle verachten, die den Glauben an ihn verloren haben“. Gesellschaftskritik irrt sich nie und braucht deshalb nichts zu lernen; sie funktioniert als Offenbarung.

Als er jetzt starb, der alte Filmschauspieler, ich kann nicht sagen, dass mein Misstrauen geschwunden sei; er hat mich nicht zum konservativen Republikaner gemacht. Allerdings habe ich deren Misstrauen gegen den Zentralstaat besser verstanden – ein Misstrauen, das deutschen Konservativen unmöglich ist, weil für sie der Staat den Zentralfetisch bildet. Während das Misstrauen jedem Bürger mit anarchistischen Restneigungen zugänglich sein sollte.

Nein, was mir wieder auffiel: dass man alten Feinden mit sozusagen anthropologischem Mitleid begegnet, wenn Mutter Natur sie mittels einer schweren Krankheit zu Gemüse macht. Auch darf Feindschaft nicht ausschließen, dass man anerkennt, wenn der Feind Erfolg hatte, insbesondere dann natürlich, wenn man den Erfolg begrüßen muss. Der Untergang des Realsozialismus war eine feine Sache, auch wenn nicht wir es waren, die sie dringlich wünschten.

„He has to be scripted“, hieß es, er brauchte für jeden Auftritt ein Drehbuch, sonst geriet er ins Stolpern

Lehrreich zu betrachten ist außerdem, welches Idealbild vom Politiker dem Misstrauen gegen den alten Schauspieler zugrunde lag. Er soll ein Mann von moralischer und intellektueller Substanz sein, kein Darsteller und Werbeträger, der vor Kameras agieren kann und im Übrigen bloß die Gelegenheiten ergreift, die sich ihm bieten.

Ich fürchte, diesem Idealbild entspricht so gut wie kein Politiker, und wenn Sie jetzt ausrufen, „das ist ja das Schlimme!“, wird die Lage nicht besser. Denn Politik sollen doch die Politiker machen und nicht Horst-Eberhard Richter oder Friedrich Schorlemmer – die im Übrigen auch leicht den Verdacht erregen, sie seien vorzügliche Darsteller und Werbeträger des Gutmenschentums. Jenes Idealbild des Politikers entwirft eher einen Vater oder Lehrer, dem wir Kinder uns vertrauensvoll unterwerfen, weil er uns gewisslich auf den rechten Weg geleitet. Als solche Väter oder Lehrer inszenierten sich Politiker noch in meiner Jugend, und wir fanden es unbeschreiblich peinlich.

Nein, Ronald Reagan war einfach im richtigen Augenblick an seinem Platz; er hat die Gelegenheiten, die sich ihm boten, ergriffen und nicht weiter auf seine ideologischen Überzeugungen – Reich des Bösen und so – geachtet. Dass ich ihn deshalb in mein inneres Pantheon aufnähme, steht nicht zu befürchten; aber die Angst, die wir vor ihm hatten, war grundlos. Und sein Beispiel lehrt, dass wir uns damit abfinden müssen, wenn zuweilen – vielleicht sogar öfter – die, welche wir zu unseren Bad Guys rechnen, das Richtige tun. Lektürehinweis für anspruchsvolle Postmarxisten: „Der neue Geist des Kapitalismus“ von Luc Boltanski und Eve Chiapello.