Film und Psyche, werdet eins!

Bilder für eine außergewöhnliche Hirnstruktur: Mit zwei Jahren Verspätung kommt David Cronenbergs „Spider“ nun endlich auch hier in die Kinos. Der Film mag eigentümlich reduziert erscheinen, doch seine Abgründe reichen tiefer, als es in anderen Arbeiten des kanadischen Regisseurs der Fall ist

Die Suche nach einem stabilen Ort der Betrachtung bleibt ohne Erfolg

VON TOM HOLERT

Ob die Verleiher auf die Chance der Verwechslung gesetzt haben? Nachdem David Cronenbergs „Spider“ vor zwei Jahren in Cannes gezeigt worden war, wartete man hier sehr lange darauf, dass der Film regulär in die Kinos kommen würde. Jetzt ist er da, einen Monat vor dem Start von „Spider-Man 2“. Vielleicht profitiert „Spider“ von der Blockbuster-Vermarktung des Spinnentopos. Wer sich allerdings in der Hoffnung auf Arachnoiden-Action in diesen Film begibt, wird eine Enttäuschung erleben.

Was in „Spider-Man“ an psychoanalytischen Subplots angelegt ist und das ganze Gewese um die Persönlichkeitsspaltung oder -erweiterung der Hauptfigur motiviert, liegt bei „Spider“ offen zutage. Cronenbergs Film modelliert die Realitätsversion eines Schizophrenen, ohne sich für die wissenschaftliche Diagnostik dieses Krankheitsbildes zu interessieren, und er tut dies auf denkbar unaufgeregte, bedächtige und penible Weise. Der akrobatischen Konfliktbewältigung des Marvel-Spinnenmenschen begegnet „Spider“ mit der detailbesessenen Arbeit von Verdrängung und Verstörung, die ein Patient in der offenen Psychiatrie an sich selbst verrichtet.

Die Spinne ist dabei sowohl Symbol wie Teil der Praxis der Traumabewältigung. Spider, die Hauptfigur des gleichnamigen Films, produziert dreidimensionale Netze aus alten Bindfäden. Die so entstehenden Environments verweisen auf Marcel Duchamps Bindfaden-Gespinst in der Ausstellung „First Papers of Surrealism“ von 1942. Nicht nur an diesem Punkt spekuliert Cronenberg über das Verhältnis von Kunst und Wahn, über die ästhetische Produktion von Künstlern und die ästhetische Organisation des Traumas.

Doch bleibt bis zum Ende ungeklärt, wem die Funktion der Spinne zukommt und an welchem Punkt im Netz sich die Spider-Figur verortet. Der Mann durchlebt, im Schutz seiner Gewohnheiten, die vom Spinnennetz-Bau bis zum fortwährenden Gedächtnisprotokoll in Robert-Walser-Geheimschrift reichen, die immer gleichen Bilder einer deformierten Kindheit.

Die fürsorgliche, unschuldige Mutter wird in dieser Erinnerung ersetzt durch eine hurenhafte Person, welcher der verantwortungslose Vater (Gabriel Byrne) verfällt. Im ängstlich-voyeuristischen Blick auf die eigene Kindheit beobachtet der erwachsene Spider den Vater und die Geliebte schließlich beim Beischlaf. Allerdings wird die Urszene mit den Augen der Mutter wahrgenommen, die darauf vom Vater mit einer Schaufel erschlagen wird. Cronenberg sorgt dafür, dass Zweifel an der Tatsächlichkeit des Geschehens nicht ausbleiben. Mutter und Geliebte werden von der gleichen Schauspielerin (Miranda Richardson) gespielt, die weniger Personen als Persönlichkeitsanteile verkörpert.

Wahrscheinlich hat Cronenberg die Spinnenfrage bei den Klassikern der Traumforschung nachgeschlagen: 1922 hat Karl Abraham in einer berühmten Fußnote zu Freud die Spinne als Symbol der phallischen Mutter gedeutet. Danach drückt die Angst vor der Spinne den Schrecken vor dem Mutterinzest und das Grauen vor dem weiblichen Genital aus. Während die gute Mutter bei Cronenberg den Jungen zärtlich „Spider“ ruft und ihn damit – als sorgende Spinne – zum Komplizen ihres Tuns erklärt, verursacht die schlechte, „genitale“ Mutter nichts als Angst und Abscheu.

Für die Spider-Figur sind Erfahrung und Projektion eins. Als Zaungast ihrer Vergangenheit, die alles andere als vergangen, sondern vielmehr massiv kopräsent ist, verstrickt sie sich in ein Netz aus retroaktiven Bezügen. Alles, was Spider erinnernd imaginiert, verstärkt die Enge des Referenzsystems einer Existenz, die weder Handlungsspielraum noch materiellen Besitz bietet. Letzteren trägt er stets bei sich, verstaut in der Kleidung und in einem armseligen Koffer. Die traumatischen Bilder schließen die Figur des Spider ein, ohne dass sich ein Ende dieser Bildhaft andeutete.

Natürlich ist eine solche Rolle, die keine Aussicht auf Heilung anbietet, eine Herausforderung. Der britische Schauspieler Ralph Fiennes, Shakespeare-geschult und als Lagerkommandant in „Schindlers Liste“ berühmt geworden, wollte sie unbedingt haben. Was in der Branche selten vorkommt: Fiennes ließ Cronenberg das Drehbuch nach dem Roman von Patrick McGrath mit dem Vermerk schicken, er sei der Richtige für den Spider. Und Cronenberg fand, er sei der Richtige für Fiennes.

Das Filmprojekt wurde, folgt man den Verlautbarungen der Beteiligten, zur Gelegenheit einer symbiotischen Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler. Fiennes ging so sehr in der Rolle auf, dass er sich während der Dreharbeiten von seinem Kostüm, einer in vielen Schichten übereinander getragenen Lumpentracht, kaum trennen konnte. Gleichzeitig bevorzugte er den ausschließlichen Kontakt zu Cronenberg. Der wiederum erklärte den Cahiers du cinéma, er identifiziere sich vollständig mit Fiennes’ Part: „Spider, c'est moi!“

Aber auch wenn sich der Film in erster Linie mit der titelgebenden Hauptfigur und deshalb mit der Physiognomie und dem extrem physischen Spiel von Fiennes beschäftigt, dient diese Konzentration nicht der Demonstration schauspielerischer Virtuosität. „Spider“ ist der Versuch, einen Film und eine individuelle Psyche in eins zu setzen. Eine neuronale Konstitution wird mit filmisch-literarischen Mitteln nachgebaut, der Film als Medium der Darstellung einer außergewöhnlichen Hirnstruktur verstanden.

Weil es Cronenberg offensichtlich nicht um Experimente mit einem subjektivistischen Point-of-View ging, sondern um den doppelten Blick auf und durch die Subjektivität der Figur des Spider, ist jedes Under-Acting von Fiennes zugleich ein Over-Acting. Denn alles an diesem Film, auch das, was nicht geschieht oder sichtbar wird, erscheint gleichermaßen relevant für den Versuch, den Grundriss dieses Wahns zu verstehen.

Den Titelcredits ist eine Sequenz von Rorschachtest-Klecksbildern unterlegt. So wird von vornherein kein Zweifel daran gelassen, dass Cronenberg, der schon in „The Brood“ (1979) die Psychotherapie zum expliziten Thema machte, mit „Spider“ erneut die psychoanalytische Tradition bemüht. Sämtliche Motive des Drehbuchs stammen aus dem Arsenal der Freud’schen Lehre. Doch wird deren Historizität nicht verschwiegen, sondern ausgestellt. Im Unterschied zur gegenwärtigen Konjunktur „Der-im Kopf von …“-Filme wie „Memento“, „A Beautiful Mind“, „Being John Malkovich“, „Adaptation“ oder „Vergiss mein nicht“ verzichtet Cronenberg auf alle Aktualisierungsversuche, und dies sowohl theoretisch wie kinematografisch.

Denn so angestaubt wie der Ödipus-Komplex, auf den sich das Trauma des Protagonisten zurückführen lässt, wirkt auch der gesamte Look von „Spider“. Eine der wenigen Begegnungen mit der modernen Welt ist in der ersten Szene dokumentiert, als Spider an einem Bahnhof in London langsam aus der Menge der Reisenden hervortritt. Diese Umgebung, in der Menschen aus den Zügen strömen, um zu Arbeit und Alltag in der Stadt aufzubrechen, wird im weiteren Verlauf durch ein Bild von London abgelöst, das aus den Archiven der britischen Kunst- und Filmgeschichte der Nachkriegszeit stammt und konsequent auf die Präsenz von Technologie, Populärkultur und postfordistischen Subjekten verzichtet.

Die Spinnenfrage hat schon die Klassiker der Traumforschung beschäftigt

Das Aussehen des Films ist zudem geprägt durch das Fehlen jeder kommerziellen Farbigkeit, es sei denn, man zählt eine gleichmäßige Grau-Braun-Tonalität zu den Farben der Saison. Für die Ausstattung orientierte man sich am „Southam Street“-Zyklus des Fotografen Roger Mayne aus dem Jahr 1956, einer Dokumentation von subproletarischer Armut und leeren Straßen im Londoner Stadtteil Notting Dale. Die erd- und fleischfarbene Malerei des Freud-Enkels Lucien Freud aus den 1940er- und 1950er-Jahren diente ebenso als Inspiration wie Carol Reeds „Odd Man Out“ und andere Beispiele eines herben Stils sozialrealistischer Trostlosigkeit. Und Cronenberg benutzt – als Kanadier – dieses spezifische Idiom der britischen Nachkriegskultur, gegen das die englische Pop Art in den 1950er-Jahren so folgenreich aufbegehrte, um einen mentalen Zustand zu möblieren, der jeder Realismus-Ambition Hohn spricht.

Für Liebhaber des „klassischen“ Cronenberg mag das alles wenig verlockend klingen. Keine bizarren Mutationen, keine Mensch-Maschine-Metamorphosen, keine Gender-Konfusionen. Vieles, was sein Werk seit über 30 Jahren auszeichnet, scheint zu fehlen. Umso größer ist das Erstaunen, wenn man feststellt, dass dieser Cronenberg-Redux konzeptuell abgründiger ist als manch anderer Film des Regisseurs.

Auf den ersten Blick schleppt sich hier, im Zeitlupen-Tempo seines Protagonisten, ein behäbig inszeniertes Psycho-Narrativ dahin – absolut frei von Suspense, selbst in jenen Momenten, in denen sich das traumatisierende Geschehen zuspitzt. Doch markieren die öden Orte der Handlung und die tristen Tropen der Erzählung für Cronenberg keine Spätwerk-Einkehr ins Konventionelle, nach einem langen Leben als Autor des Abjekten. Mit deleuzianischer List wird der Film vielmehr in ein irritierend interaktives Verhältnis zu seinen BetrachterInnen gesetzt.

Cronenberg betreibt die Überführung des filmischen Bilds in einen reinen mentalen Raum, in dessen Tiefe irgendwo die multiplen Orte der Betrachtung liegen. So wie man sich mit den inzwischen handelsüblichen Bildbearbeitungsprogrammen in die Bilder „hinein“begeben und alle möglichen Betrachterstandorte einnehmen kann, gibt es in „Spider“ scheinbar kein Außerhalb des Films mehr, sondern allenfalls die Möglichkeit, sich innerhalb des Bildes, wie mit einer virtuellen Kamera, einen Platz zu suchen.

Überdies übt man sich mit der Hauptfigur permanent im Zusammensetzen eines Puzzles aus visuellen und akustischen Gedächtnisfragmenten. Diese letztlich vergebliche Suche nach einem stabilen Ort der Betrachtung und einem Sinn für den Zusammenhang folgt einer von vielen möglichen Logiken des Wahns. Cronenberg setzt alles daran, dieser Logik ein Gesicht zu geben. Das ist keine Arbeit, die Vergnügen bereitet. Nur existenzielle Erschöpfung und Verunsicherung. Wie in Becketts Stück „Das letzte Band“, in dem ein alter Mann seine Geschichte anhand von Tonbändern zu rekonstruieren versucht, bleibt wenig. Für Cronenbergs Spider gilt, was Adorno über die Figuren Becketts gesagt hat: Er benimmt sich so primitiv-behavioristisch, wie es den Umständen nach der Katastrophe entspräche.