„Man kann Ballack nicht mehr einfach in den Arsch treten“

Der Philosoph Klaus Theweleit liebt Fußball und misstraut linken Klischees vom Guten, Wahren & Schönen – auch im Blick auf Ereignisse wie die Europameisterschaft in Portugal

INTERVIEW PETER UNFRIED

taz: Herr Theweleit, wenn wir Sie richtig verstehen, hören Sie den Fußball sprechen. Was spricht er denn?

Klaus Theweleit: Tja. Was spricht er?

Vielleicht kündet er von unseren Fehlern?

Ja, das stimmt. Etwa wenn sich Anhänger auf Spieler hetzen lassen, dieser Neidquatsch. Selbst wenn es einem an den Kragen, den Arbeitsplatz geht, hat man nichts davon, wenn ein Star zehn Millionen weniger verdient. Das wird ja nicht umverteilt.

Worin besteht der Fortschritt?

Darin, gesellschaftliche Grundkonflikte nicht am falschen Ort auszutragen. Der Klassiker ist ja, es in der Familie auszutragen. Weg damit. Aber auch die Fußballspielfläche muss frei davon sein. Erst dann kann man auch frei etwas darin probieren oder lernen oder denken.

Haben Sie deshalb in Ihrem Buch das gute, alte Analogiespiel Fußball/Politik auf die Spielfläche des Fußballs zurückgekickt?

Manches davon ist ja eher parodistisch, es sind auch nicht immer strenge Analogien, das sind eher Gedankenblitze davon.

Sie meinen es aber auch ernst?

Klar, die Sache ist auch ernst. Wenn man sieht, wie im Fußball mit Vereinsführungswahlen umgegangen wird und in der Wirtschaft mit dem Bestellen von Vorständen: Die sind wie Feudalherren. Die können machen, was sie wollen. Zumindest bis die nächste Vorstandswahl kommt. Das ist eine verrückte Parallele, die etwas über deutsche Führungsmängel sagt.

Inzwischen werden Gehälterneid und andere Fußballerklischees für die Beurteilung der Arbeit von Wirtschaftsmanagern übernommen. Früher lief die Analogisierung umgekehrt.

Ja. In den Siebzigern habe ich zu Freunden gesagt: Wenn ihr wissen wollt, was politisch los ist in Deutschland, braucht ihr nur den Sportteil lesen. Da habt ihr die ganze Chef- und Ideologisierungsdiskussion drin. Das war über Jahrzehnte der eigentliche Kern der Sportberichterstattung: Anpassung, Gehorsam gegen Schiedsrichter und Trainer, Unterordnung, all dieser Kram.

Wo sehen Sie, sagen wir, die fußballerische Parallele zu Willy Brandts Politik der Berufsverbote Mitte der Siebzigerjahre?

Bis zu Effenbergs Stinkefinger konnte man die noch ziehen. Ein ideologisch nicht angepasster Briefträger darf keine Briefe austragen. Und Effenberg verbeugt sich nicht vor Vogts und Fans und wird von der WM nach Hause geschickt. Das ist doch Berufsverbot, zumindest die Parodie davon.

Diese Moralvorstellung war allerdings bereits 1994 ein Anachronismus, der auf Bundestrainer Berti Vogts zurückfiel.

Das merken dann die opportunistischen Zeitungen auch, wenn etwas nicht mehr ganz zeitgemäß ist. Dann fingen sie an, Vogts zu schlachten. Aber Bild versucht bis heute, den Fußball in der Hand zu behalten. Steuer, Benzinpreis, Fußball – das sind die drei Steuerungsmittel, die am besten funktionieren.

Es gibt ja doch einiges zu klagen. Über Steuern und Benzinpreise …

… und der Fußball ist auch schlechter geworden.

Speziell den großen Weltunternehmen geht es nicht gut.

Die Hälfte der Fusionen würde man gerne rückgängig machen, sie funktionieren nicht richtig. Die Unternehmen stoßen wieder Teile ab. Die oben glaubten, sie müssten nur das Geld ordentlich rollen lassen. Und dann stellen sie fest: Es sind ja noch ein paar mehr auf dem Markt, die etwas Ähnliches wollen. Und dann hat man das Problem, dass die Leute in diesen Positionen nicht darauf vorbereitet sind, wirklich denken zu können.

Reden Sie von DaimlerChrysler oder vom FC Bayern?

Das betrifft Konzernspitzen wie Vereine. Wenn ich mir den Schalker Manager Rudi Assauer ansehe oder das Duo Meier/Niebaum in Dortmund oder selbst den Politprofi Mayer-Vorfelder …

den DFB-Präsidenten …

… die sind zu flaschig, die sind diesen Ansprüchen nicht gewachsen. Und ich glaube auch, dass Matthias Sammer emotional nicht in der Lage war, seinen Millionärsklub in Dortmund so zusammenzuhalten, dass sie sich untereinander mögen. Wenn was DDR-Mäßiges bei ihm rauskommt, sind das diese alten Moralansprüche: Ihr müsst doch!

Worin irrte Sammer?

Er hat nicht realisiert, dass Spieler von heute nicht mehr auf dieser Ebene ansprechbar sind. Nehmen Sie Michael Ballack.

den derzeit besten deutschen Fußballer …

Den kann man nicht mehr einfach in den Arsch treten, und dann reißt der die anderen mit. Dieser Sozialtyp ist nicht mehr da. Das hat mit flachen Hierarchien auf allen möglichen Ebenen zu tun, unter anderem mit der allgegenwärtigen Elektronisierung. Ob das in Schulen ist oder anderswo: Man ist ein Gleicher irgendwo. Bloß dass man nicht gleichviel verdient.

Was heißt das für die Chefs?

Nehmen Sie Dortmund oder Bayern: Das muss eine falsche Spannung im Klub sein, die sich da entlädt. Das ist ein Führungsproblem. Die begreifen nicht, dass das Geld sich nicht gleich umsetzt.

Das Prinzip Real Madrid …

… ist sportlich gescheitert. Man kauft die fünf besten Offensivspieler Europas, und dann muss es gehen – das ist ad absurdum geführt worden. Wenn der Kapitalismus denkt, alles geht mit Geld, dann schlägt er auch in Dummheit um.

Werder Bremens Führungspersonal und dessen kooperativer Führungsstil gelten dagegen als Grundlage des Erfolgs.

Bei Bremen kann es tatsächlich sein, dass eine neue Ära angefangen hat. Ob mit dem Trainer Schaaf oder irgendwann ohne. Allofs ist ein vergleichsweise kluger Typ. Das haben in diesem Jahr alle gelernt: dass es nur mit Geld allein nicht geht.

Absolut gesehen ist auch am Ende dieser Saison das Geld oben, und die Armen sind unten – mit jeweils zwei Ausreißern.

Richtig. Aber es kommt auf diese zwei Ausreißer an.

Herr Theweleit, Sie sagen, Teile der Gesellschaft haben in den frühen Siebzigern den Fußballer Günter Netzer benutzt, um die gesellschaftliche Aufbruchstimmung in den Fußball projizieren zu können …

… den man so sehen wollte. Ja.

Wo sind denn im deutschen EM-Team die positiven Projektionsflächen?

Dünn gesät.

Was macht die Gesellschaft mit dem DFB-Kapitän?

Mit Oliver Kahn habe ich relativ wenig Mitleid. Dem geht es wie Matthäus. Wen Bild aufbaut, der glaubt irgendwann, er sei wirklich so. Mit Ausnahme von Beckenbauer. Der weiß, dass alles einmal so ist und einmal wieder anders. Kahn dagegen dachte wirklich, er sei der Fußballgott Deutschlands.

Nennen Sie uns für die EM eine positive Projektionsfläche.

Zugegeben, ich sehe auch keine: Wenn man nur nach Deutschland kuckt, spiegelt das die Trostlosigkeit wieder.

Welche Trostlosigkeit?

Die Trostlosigkeit, die sich aus der Politikverdrossenheit speist. Diese Typen …

die Politiker?

… sagen, sie können unsere Probleme lösen, können das aber nicht – ob sie uns mehr Geld klauen oder Schulgeschichten in die falsche Richtung entscheiden. Siehe Pisastudie. Man kann das auf jeder Ebene zeigen. Stoiber und Schröder hatten im letzten Wahlkampf nur ein Argument: Sie warfen sich gegenseitig vor, dass sie das Arbeitslosigkeitsproblem nicht lösen können. Stoiber sagte: Der kann’s nicht. Schröder sagte: Der kann’s erst recht nicht.

Beide haben Recht.

Selbstverständlich. Jeder vernünftige Sechsjährige weiß, dass die Arbeitslosigkeit weiter zunehmen wird, dass weiter technifiziert wird und und und.

Und?

Man muss feststellen, dass dieser Führungsanspruch total bodenlos ist. Der erste Schritt wäre, das Problem anders zu benennen, zu sagen: Wir kriegen die Arbeitslosigkeit nicht runter, aber wir entwickeln neue Lebenskonzepte und eine neue Idee von gesellschaftlichen Beschäftigungen.

Das tun die nicht.

Nein. Sich das eingestehen hätte Folgen: Dann gäbe es welche, die faschistisch würden und nach dem Führer schreien. Das ist aber keine Mehrheit. Aber die meisten Leute halten es auch nicht aus, einzuschlafen mit dem Gedanken: Unsere Führung hat keine Ahnung. Für mich ist das eindeutig: Da sind lauter Flaschen zugange, und wir können uns das anschauen und höchstens Noten vergeben, wer das besser kaschiert.

Wie spiegelt sich das im Stadion?

Spiegeln? Würde ich nicht sagen. Aber der Fan im Stadion stellt Parallelen her, ob ihm das bewusst ist oder nicht. Dieser Vereinstyp ist wie mein Chef. Oder: Wie diese Arbeitsgruppe hier funktioniert, das hätte ich auch gerne bei meiner Arbeit. Fußball ist ein einfaches System, deshalb sehen viele ganz schnell, wenn sich in einer Mannschaft etwas anders darstellt als im Jahr vorher. Irgendwann ist dann ein gesellschaftlicher Stimmungsumschwung da.

Inwiefern?

Insofern, als man Uli Hoeneß für einen sachlichen Manager hielt – und irgendwann sieht eine relevante Gruppe: Das ist eigentlich doch ein schwankender Tyrann, der mal da, mal dort hintritt und zudem furchtbar selbstgerecht ist.

Bayern schreit seit Jahren nach einem Führer, wenn es schlecht läuft.

Ja. Allerdings hat Bayern mit dem Einkauf von Michael Ballack diesem Prinzip nicht mehr gehuldigt. Aber es stimmt: Im Nationalteam ist Ballack immer gleich eine Klasse effektiver.

Weil Rudi Völler ihn weniger mit dem ideologischen Führungsspielerunsinn belastet?

Das nehme ich an. Völler selbst und Jürgen Klinsmann waren in der Nationalmannschaft vielleicht die Letzten, die man als Helden brauchen konnte. Bierhoff hat schon nicht mehr funktioniert.

Gibt es denn keine deutschen Helden mehr?

Ja, so kann man das formulieren. Aber die Jungs, die Computer spielen, brauchen auch gar keinen deutschen Helden. Die spielen mit Zinedine Zidane. Die kennen alle europäischen Ligen besser als die Bundesliga.

Gut so?

Selbstverständlich. Das Lokalpatriotistische ist ja eh absurd, wenn man sieht, wie die Vereine zusammengesetzt sind.

Herr Theweleit, Sie sagen, das Denken überwintere im Fußball. Feststellung oder Tadel?

Was soll man da tadeln? Das kann man nur feststellen. Der eine Grund, der immer genannt wird: Man kann seine Denkschemata nicht mehr an der Scheide Ost-West entlanglaufen lassen. Das leuchtet mir ein. Wichtiger finde ich den Wegfall der politisch-utopischen Rede in den Privatbeziehungen. Dass nicht mehr jedes Wort auf einen politischen Background bezogen werden kann, der sich darin ausdrückt. Das ist weg, das glaubt kein Mensch mehr , weil das auch nicht machbar war.

Sie sagen, der Mensch habe beim Fußball im Gegensatz zur Politik noch den Eindruck, Einfluss nehmen zu können?

Ja, ich habe gesagt: Es hat den Anschein. Das ist kein Lob. Das ist ein Selbstbeschiss.

Was ist derzeit politisch-utopisch?

Nichts. Das geht im Moment nicht. Die Diskurse, mit denen man seine Dinge verhandelt, waren viele Jahre immer auch Diskussionen von Weltmodellen. Das hat sich aus nachvollziehbaren Gründen totgelaufen. Man kann nicht, indem man dauernd richtig lebt, die Welt umstürzen. Das ist ja sowieso eine Wahnidee. Die hatte teils eine gute Funktion, in den Siebzigern und Achtzigern, aber das kann man nicht fünfzig Jahre durchhalten. Insofern ist das nicht kaputt gegangen, das ist einfach fertig. Das ist eine abgebrauchte gesellschaftliche Bewegung, das müsste neu erfunden werden. Und wird es sicher auch. Jede Generation scheitert ein bisschen besser.

Fußball …

Fußball ist eine der Sachen – vor oder neben der Musik –, die in dieses Vakuum stoßen. Die Musik ist das Vorbild. Lange wurde viel verhandelt über die Hits, die man hört, die Bands, die man mag, wer wo wie zusammenarbeitet und was erfindet. Das hat auch eine Grenze gefunden durch eine Spezialisierung, bei der Kleinigkeiten unterschieden werden, die nur wenige wahrnehmen. Beim Fußball nimmt man alles wahr. Das ist einfach. Die großen gesellschaftlichen Reden brauchen einen einfachen Darstellungsbackground.

Gibt es eine Hierarchie zwischen Literatur, Musik und Fußball?

Nein, das macht keinen qualitativen Unterschied, wenn man es richtig macht, das heißt, in dem Bereich alles aufnimmt ,was aufzunehmen ist. Das gilt sogar für die Formel 1.

Na, na.

Doch. Es geht darum, dort alles zu wissen. Die Verwissenschaftlichung des Fußballs ist ein Fan- und Fanzinetum, wie in der Musik.

Eine Gegenbewegung zur Boulevardisierung?

Die Boulevardisierung war die ganze Zeit da. Dann kam das Startum dazu. Zuletzt die Ehefrauen. Boris Becker schaffte den Durchbruch …

in der Besenkammer …

… dann kamen Effenberg und Frau Strunz. Bei den Beckhams halte ich es für möglich, dass die ihre Eheprobleme sogar inszenieren. Jedenfalls wäre ihnen das zu wünschen.

Das ist neu, dass Fußballerehen in der Nicole-Kidman/Tom-Cruise-Liga verhandelt werden.

Das kommt durch die Zahlen. Wenn einer vierzig Millionen kostet, ist er im Schwarzenegger-System. Hätte er nur vier Millionen gekostet, brauchte man diese Storys nicht. Das ist bei den Wirtschaftsmanagern genauso.

Ist die Neue Sachlichkeit, gerade in der linken und alternativen Fußballberichterstattung, auch eine Form des Eskapismus?

Ach, das weiß ich nicht. Wenn man sich wie ein Wurm in eine Sache eingräbt, in die Verästelungen … wenn man das früher mit der Literatur gemacht hat, kam auch irgendetwas dabei raus.

Worin besteht das Politische an der Neuen Sachlichkeit?

Auf der Ebene des Simpelsten: Es stimmt eher. Früher bestand die eine Hälfte eines Artikels aus Moral, die andere aus falscher Spielbeschreibung. Das ist heute anders. Jeder Bericht, der mehr stimmt als ein anderer, ist ein ungeheurer Fortschritt. Das kann man besonders gut im Kulturteil sehen. Man liest, was da geschrieben wird. Dann geht man selbst rein in einen Film – ins Theater gehe ich ja nicht – und hat das Gefühl: Da stimmt nichts. Gar nichts.

Das war bei den linken Fußballfeuilletonisten genauso. Die Frage ist: Wo ist bei der Neuen Sachlichkeit das Linke?

Warum muss das links sein? Wenn das Linke sich auflöst in eine genaue Wahrnehmung der Welt, das ist das Beste, was das Linke überhaupt machen kann.

Der Spätlinke, der sich mit Fußball beschäftigt …

Hören Sie mir bloß auf, das ist schon der falsche Ansatz. Ich definiere mich auf dieser Ebene nicht als Linker. Und schon gar nicht als Spätlinker. Auch wenn ich über Machtverhältnisse schreibe oder über Folter im Irak, dann tue ich das, weil ich denke, es entspricht den Tatsachen. Und dann kommt eine Rede raus, die sich politisch links einordnet. Das ist weder meine Absicht noch mein Ziel. Ziel ist, dass sich das, was ich als links definiere, als Enklave auflöst und Zentrum gesellschaftlicher Vernunft wird. Man braucht keine Linke aus Prinzip.

Auch keinen rechten oder linken Fußball?

Nein. Was ist das?

Cottbus mit seinen feudalen Strukturen? Der FC Bayern mit seinem Führungspersonal samt Stoiber?

Ich war in den Siebzigern Bayernfan. Bayern hat keinen rechten, sondern einen intelligenten, aufgeweckten Fußball gespielt. Gefallen hat mir nicht, dass Breitner als Maoist posierte, sondern dass Gerd Müller der modernste Fußballer seiner Tage war. Im Fußball sollte man auf Klischees verzichten.

Sondern?

Lieber sagen: Die spielen einen zivilisierteren, entwickelteren Fußball. Oder: Die Vereinsstrukturen sind mir angenehm: Weil der Trainer kein Dompteur ist oder nicht nur Quatsch erzählt. Aber man sollte das nicht links oder rechts nennen: Weg mit den Lagern! Es gibt Differenzen: Wenn man sie wahrnimmt, wird man seine Sympathien entsprechend verteilen.

Wie verteilen Sie Ihre Sympathien bei der EM?

Auf Portugal und Dänemark, sonst auf die üblichen Dauertäter, D’land inbegriffen. Tschechien scheidet aus.

PETER UNFRIED, 40, stellvertretender Chefredakteur der taz, freut sich auf alle 31 EM-Spiele, speziell die drei der DFB-Equipe