Der ratlose Oberkörperdarsteller

Aus der Sexsucht eine Waffe machen: Am Sonntag spielte Usher im Berliner Velodrom und bezauberte durch seine Bauchmuskeln

Ganz oben, in den luftigen Höhen der Musikindustrie, dort wo die Plattenverkäufe in zweistelligen Millionen zählen und als Chartsnotierung nur der erste Platz wirklich gilt, geht es zu wie beim Wrestling. Ein Charakter, der sich ewig und drei Tage als Guter durchgeschlagen hat, kann von einem Augenblick auf den anderen das Lager wechseln. Ungeahnte Gegner können auftauchen und langfristige Planungen durcheinander werfen.

Eigentlich lief für Usher bisher immer alles rund. Als begnadeter Michael Jackson-Darsteller betrat er die Weltbühne, in dem sicheren Wissen, eines Tages den Thron seines großen Vorbilds übernehmen zu können. Hit um Hit, Album um Album tastete er sich heran. Bis vor anderthalb Jahren aus einer Ecke ein Gegner auftauchte, mit dem niemand gerechnet hatte: In einem Geniestreich entriss der Ex-Boygroup-Sänger Justin Timberlake ihm die Favoritenrolle auf die Jackson-Nachfolge.

Usher konterte zwar relativ prompt, indem er vor einigen Monaten pünktlich zum Erscheinen seines „bisher persönlichsten“ Albums „Confessions“ der interessierten Weltöffentlichkeit gestand, er sei jahrelang sexsüchtig gewesen und seine Beziehung zu Chilli von TLC sei diesem Leiden zum Opfer gefallen. Doch diese spektakuläre Vertiefung des Charakterprofils seiner Rolle, musste man am Sonntag bei seinem Konzert im Berliner Velodrom feststellen, kaschiert doch nur eine gewisse Ratlosigkeit: Wohin mit all dem angehäuften künstlerischen und körperlichen Kapital? Wie kann man aus der Sexsucht eine Waffe machen?

Nicht dass es nicht kurzweilig gewesen wäre, wie Usher all die Elemente durcheinander warf, mit denen man sich als R’n’-B-Star seinen Lebensunterhalt verdient: Hier der einsam Leidende, der von jeder Frau abgewiesen wird, da der Player im weißen Anzug, den es nach einem bad girl verlangt (um von diesem gefallenen Mädchen schließlich die Scheine einzukassieren, die sie anderen Männern aus der Tasche gezogen hat, auch Usher kommt also nicht am gegenwärtigen Trend zum Zuhältertum vorbei).

Das alles war ganz wunderbar anzuschauen, vielleicht gerade weil es konzeptuell so überhaupt kein Ganzes ergab. Denn: Wer gibt über vierzig Euro für eine Usher-Konzertkarte aus? Junge Mädchen und schwule Jungs. Und warum? Man will Ushers Oberkörper sehen, der die schwierige Balance hält, gleichzeitig sehr und doch nicht zu sehr durchtrainiert zu sein. War dieser Akt des T-Shirt-Lüftens bei Ushers letztem Konzert noch der Fluchtpunkt der gesamten Dramaturgie gewesen, so entledigte er sich seiner Oberbekleidung an diesem Abend eher beiläufig und ohne größeres Brimborium. Dafür aber gleich zweimal.

Doch diese leichte Ratlosigkeit, ob die angestrebte Künstlerpersönlichkeit nun eigentlich ernst zu nehmender Sänger oder hübsch anzuschauender Tänzer sein soll – eine Frage, die Usher bislang nicht beantworten musste, da er als Michael-Jackson-Epigone beides gut unter die zahllosen Kopfbedeckungen bekam, mit denen er bevorzugt tanzt –: Usher konnte sie nicht wirklich auflösen. Mal gab er den Soulsänger alter Schule und fiel vor Inbrunst auf die Knie, mal beugte er die Knie in ganz normaler Brunst und zeigte mit seinen Tänzerinnen und Tänzern, dass er auch Schritte beherrscht, die nicht an Michael Jackson erinnern.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Erfolge seines großen Konkurrenten Justin Timberlake bei der glaubwürdigen Darstellung seiner Männlichkeit trotz einiger Versuche nach wie vor bescheiden sind (gerade soll sich seine Freundin Cameron Diaz von ihm getrennt haben, weil niemand in Hollywood sie mehr ernst nehme, seit sie mit Timberlake zusammen sei), dürfte Ushers Unentschlossenheit jedoch nicht von langer Dauer sein. Die Coolness, mit der er das obligatorische Mädchen aus dem Publikum auf die Bühne holte und anschmachtete, die gekonnte Beiläufigkeit, mit der er sie gleichzeitig verführte und vorgab zu verführen, sie zu der einen und einzigen erhob und doch kein Geheimnis daraus machte, dieses Ritual jeden Abend zu zelebrieren: das hatte eine Klasse, die selbst im R’n’B selten ist. TOBIAS RAPP