Ganz allein in Verdis Dorf

Philipp Himmelmann versuchte an der Berliner Staatsoper, Giuseppe Verdis „Don Carlo“ zu inszenieren. Dank einiger guter Solisten hat das Meisterwerk diese Premiere dennoch gut überlebt

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Ein Tisch und ein Leuchter, für sehr viel mehr hat es diesmal nicht gereicht auf der Bühne. Man tafelt gerne, und auf eben dem Tisch legt er die Eboli flach, dieser Philipp, König von Spanien. So treiben sie’s da oben, es geht zu wie auf dem Dorf. Der Sohn hat’s mit der Stiefmutter, auch der Priester will seinen Spaß, die Ketzer sollen brennen, und beten muss man immerzu, dass der liebe Gott ein Einsehen hat und den armen Seelen Ruhe gibt. Glücklich wird vorher keiner, der Philipp schon gar nicht, der da postcoital auf der derangierten Gräfin liegt. Er knöpft sich die Hose zu. „Sie hat mich nie geliebt“, beginnt René Pape zu singen. Er meint nicht die Eboli, für die das zwar auch gilt, sondern die geostrategisch angeheiratete Elisabeth von Valois.

Um Liebe ging es nun wirklich nicht in diesem Fall, als ob er selbst das nicht am besten wüsste; doch eben an dieser Stelle, wo Schillers politisches Ideendrama an seine logischen Grenzen stößt, beginnt Verdis Genie. Er hat diesem König eine Arie geschenkt, in der er zurückkehren darf aus der kalten Höhe der Staatsmacht in das Dorf, aus dem Verdi selber kam. Niemals hat er es vergessen. Immer wieder klingt gerade in diesem insgesamt siebenmal umgearbeiteten Werk die Orgel von Le Rencole mit, die ein wenig verstimmt war, und die Dorfkapelle, die mit heiligem Ernst ihre schlichten Märsche, Lieder und Tanznummern gespielt hat, mehr schlecht als recht zwar. Aber schön war’s und auf eine so menschliche Art und Weise wahr, dass es in jeder noch so lausigen Aufführung bis heute weiterklingt.

Das ist Verdis Welt, und ganz aus ihrer Mitte heraus entfaltet René Pape mit warmem, klug artikuliertem, nie selbstgefällig dröhnendem Bass das Drama dieses Königs. Es beginnt leise, aber nicht aus der Tiefe der Verzweiflung, eher von Ferne, als sei er noch nicht ganz bei sich, und lässt dann in großer Ruhe das Unmögliche Musik werden. Ausgerechnet dieser rohe, von seiner Macht verblödete Philipp möchte geliebt werden. Glauben kann man ihm das nicht, aber man hört es bis in die fallenden Silben des Wortes „Escoril“ hinein, nur der Name seines Palastes wird ihm bleiben in der Einsamkeit seiner glanzlosen Herrschaft.

Zu Recht erntet Pape minutenlangen Szenenapplaus für diesen Höhepunkt. Danach war der Bann dieser Inszenierung gebrochen, die vor der Pause nur Schlimmes für das Ende fürchten ließ. Doch dem Regisseur Philipp Himmelmann gingen nun auch die schlechten Einfälle aus, mit denen er Verdi zwei Akte lang zugesetzt hatte. Zu notieren sind Polizeischülerinnen, die bei der Schießausbildung von murmelnden Bächlein in spanischen Gärten singen, und nackte Gefangene, die bei der öffentlichen Ketzerverbrennung erst aus Benzinkanistern begossen und dann an den Füßen zum Bühnenhimmel hochgezogen werden.

Wenn auch immer noch grobschlächtig und dumpf begleitet von Fabio Luisi am Pult der Staatskapelle, gehörte danach die Bühne den Sängern und Sängerinnen. Wahrscheinlich ist das das Beste, was einem Verdi passieren kann, besonders wenn das Orchester so wenig in Form ist. Es hat nicht allzu viel zu tun bei Philipps trauriger Sehnsucht nach Menschen, und gleich danach gelang es Kwangchul Young, dem heimlichen Star des Abends, in der Rolle des Großinquisitors Papes Vorlage noch zu übertreffen. Ein wahrlich übermächtiger Bass holt den König in die Wirklichkeit zurück, die nun erst und viel schauerlicher als die nackten Gehenkten ihre blasphemische Bösartigkeit enthüllt. Gott selbst hat seinen Sohn geopfert, und der Kalvarienberg ist überall, singt Youn, dass einen schaudert, und tatsächlich muss danach der „Thron sich dem Altar beugen“, wie Pape singt, einfach, weil man seinen Gegenspieler gerne in noch größeren Rollen wieder hören möchte.

Es sieht nicht gut aus für Don Carlo. Philipp darf ihn mit kirchlichem Segen ermorden. Was Jorge Antonio Pito in der Titelrolle betrifft, ist das gar nicht nötig. Außer der lieblosen Behandlung des Orchesters ist Luisi auch vorzuwerfen, dass er den jungen Tenor nicht daran hindert, seine Stimme in schrecklichen Schreikrämpfen zu missbrauchen. Ausgebuht wird er schon im ersten Duett mit Dalibor Jenis, dem Marquis von Posa, der erst danach zeigen kann, was in ihm steckt: eine zwar nur schlanke Stimme, dafür aber eine große Kunst der Gestaltung. Sie lässt ihn all die Wendungen und Brechungen auskosten, die Verdi diesem ewigen Schlaumeier in die Noten geschrieben hat. Jenis kann das alleine, Norma Fantini in der Rolle der Elisabeth hätte eine Hilfe gebraucht, die von einem wie Himmelmann nun mal nicht zu erwarten ist. So singt sie nur schön, aber ohne tiefere Einsicht in die Rolle, und steht daher im Schatten von Nadja Michael, die zwar auch nicht so genau weiß, wer diese Eboli eigentlich ist (das Dorfflittchen), aber einfach dem rohen Schwermetall ihrer Stimme vertraut, mit dem sie notfalls alles über den Haufen singt, was ein Dirigent oder ein Regisseur sich so gedacht hat. Verdienter Sonderapplaus.