„Scheitern macht auch Sinn“

Thomas Flierl betrachtet die Oper als Kunstform als einen institutionalisierten Widerspruch: Ein Gespräch mit dem Berliner Kultursenator über die Opernreform, Verschwendung und Sparzwang, Kunst als Ware und die Veränderung des Publikums

INTERVIEWKATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Einen großen Teil Ihrer Zeit als Kultursenator haben Sie mit der Opernreform verbracht. Wie viel Zeit aber haben Sie, um in die Oper zu gehen?

Thomas Flierl: Viel zu wenig. Dennoch bringt das Amt die schöne Herausforderung mit, Oper für sich neu zu entdecken. Insofern bin ich noch nie so oft in die Oper gegangen wie in diesen zwei Jahren, sicher 15 bis 18 Inszenierungen. Ich habe da unendlich viel gelernt.

Für die Programmzeitschrift der Komischen Oper haben Sie einen Text zu „Wozzeck“ geschrieben. Sie nennen da die „Oper als Kunstform einen institutionalisierten Widerspruch“. Liegt dieser Widerspruch darin, dass Oper immer eine Kunstform der Verschwendung ist, die sich aber andere Ziele als Alibi vorhalten muss?

Ich verfolge in dezidierter Weise ein Kulturverständnis, das von der Gleichzeitigkeit des historisch Ungleichzeitigen ausgeht, dass unsere heutige Kultur von kulturellen Zusammenhängen verschiedenen historischen Alters geprägt ist. Die Oper scheint diesen Widerspruch in besonderer Weise auszudrücken. Die Produktionsweise ist bestenfalls manufakturell, mitunter ganz hierarchisch und feudal geprägt. Von den Produktionsweisen noch immer auf die Sinnlichkeit der Stimmen und des Körpers angewiesen und dennoch mit den Weltproblemen befasst, Stoffe bearbeitend, interpretierend und neu interpretierend, die Menschheitserfahrung aufheben.

Sie schreiben auch, dass die Wozzecks von heute kaum in die Oper gehen und soziale Distinktion diejenigen von der Hochkultur fern hält, deren Geschichten der Ausgrenzung auf der Bühne verhandelt werden. Ist das unabänderlich?

Die kulturpolitischen Anstrengungen müssen natürlich dahin gehen, den Kreis zu verbreitern. Das heißt auch, neue Publikumsschichten in die Oper zu holen oder Oper an anderen Orten zu machen, wie es zum Beispiel in den Kooperationen zwischen Komischer Oper und Zeitgenössischer Oper geschieht. Diese Bemühungen sind besonders wichtig, sie sind auch ein ökonomisches und kulturwirtschaftliches Problem. Eine Opernstudie hat ergeben, dass wir in Berlin 700.000 Opernbesucher im Jahr haben, und um die drei großen Opern wirtschaftlich langfristig halten zu können, bräuchte man eigentlich eine Million. Wir müssten das regionale Umfeld und das touristische Potenzial besser erschließen, aber auch jüngere Publikumsschichten gewinnen, um diese Betriebe zu erhalten. Das ist auch eine Frage des kulturellen Gedächtnisses der Stadt.

Gerade bei der Komischen Oper, aber auch der Deutschen Oper war im letzten Jahrzehnt zu spüren, dass ihr Stammpublikum sie im Stich ließ, wenn sich die Konzepte der zeitgenössischen Kunst öffneten. Es scheinen doch Hochburgen eines konservativen Kulturbegriffs.

Ich glaube, dass die feste Bindung von Publikumsschichten zu Institutionen im Schwinden begriffen ist. Hinzu kommt die topografische Umdeutung der Berliner Kulturlandschaft, die mit der Vereinigung und der Internationalisierung der Stadt erhebliche Veränderungen erfahren hat. So sehe ich mit Bedauern, dass immer noch sehr wenige Ostberliner in die Deutsche Oper gehen; und dass in die Staatsoper, die mehr dem repräsentativem Charakter von Mitte entspricht, auch immer weniger Ostberliner gehen als früher. Da spielen gefühlte und reale Eintrittspreise eine Rolle und eine kulturelle Fremdheit zu den neuen Publikumsschichten, die sich der Orte wie selbstverständlich bemächtigen, die sich anders inszenieren. Damit löst sich die traditionelle Bindung auf. Das ist auch eine Chance, aber mit der Verlagerung der kulturell-repräsentativen Aktivitäten in die historische Mitte, die heute ein gemeinsames Zentrum ist, hat natürlich die Deutsche Oper in Charlottenburg ein großes Problem.

War es Teil Ihrer Strategie, die Oper als Bollwerk mit der größten Verteidigung zuerst durch die Abschürfungen im Kulturetat zu steuern, um andere Bereiche, die öffentlich nie so hoch gehandelt werden, zu schützen?

Als ich angetreten bin, konnte man auf der ganzen Front, wenn jetzt diese militärischen Bilder sein sollen, diesen Problemstau erkennen. In die „weichen“ Bereiche, die nicht institutionell gefördert wurden, wurde die ganzen Neunzigerjahre hineingeschnitten, wie in die Projektförderung der freien Szene, die bezirkliche Kultur, den Kulturaustausch. Dazu wurden die überfälligen Strukturreformen für die großen Institutionen versäumt. Insofern war hier auch die größte Herausforderung – nur indem wir die großen Institutionen reformieren, kann man Substanz erhalten. Es ist richtig, dass dies auch ein Moment des Umverteilens im Kulturhaushalt beinhaltet. Nur wenn wir Ressourcen frei bekommen für die weicheren, experimentelleren Bereiche, kann man von eigener Profilierung im Kulturbereich sprechen. Natürlich steht das unter erheblichem Konsolidierungszwang. Der Kompromiss ist, in den schon stark dezimierten Bereichen nicht weiter zu kürzen und Einsparanstrengungen im Opernbereich zu unternehmen. Durch die Kooperationen mit dem Bund und die Übernahme einiger Einrichtungen konnte die Schließung einer Oper abgewandt werden. Das wurde bundesweit als ein kulturpolitisches Signal verstanden: Wenn in Berlin angefangen wird, Opern zu schließen, werden auch kleinere Stadttheater in der Provinz zur Disposition gestellt.

Der Mai war in Berlin ein Opern-intensiver Monat: Die Opernhäuser brachten je zwei Premieren heraus, aber auch viele andere Spielstätten zeigten Oper: In den Sophiensälen lief „Antigone“, eine Oper aus dem 18. Jahrhundert, vom jungen freien Team Novoflot hervorragend inszeniert. Die Zeitgenössische Oper Berlin stellte einen chinesischen Komponisten vor, die Berliner Kammeroper zeigte in Neukölln „Mr. Emmett takes a walk“. Wer wollte, konnte sieben bis neun Opernpremieren erleben. Damit zeichnet sich ein Trend ab: Erstens drängt neues Musiktheater in die Stadt und zweitens werden bei Theaterleuten und Musikern Projekte immer beliebter, die die Grenzen der Institution und Gattung Oper brechen. Das ist umso erstaunlicher, als es den Entwicklungen der Produktionsbedingungen zuwider läuft. Wird Ihnen da nicht bange?

Ob ich mich fürchte, ist unerheblich. Offenbar reichen die Ressourcen aus und die Leute entdecken da künstlerisch sinnvolle Strategien. Dass es genreübergreifende Projekte gibt, ist ja nur gut, denn das hilft, neue Publikumsschichten zu gewinnen. Auch die großen Opernbetriebe stellen sich ja selbst in Frage. Wir sollten in Berlin begreifen, dass wir die einzig wirklich große Metropole in Deutschland sind, aber natürlich zu wenig Umraum haben, zu wenig Region; das könnte sich mit der Erweiterung Europas ändern. Solche Crossover-Projekte oder auch Projekte, die von den Opernhäusern an anderen Orten in der Stadt realisiert werden, sind da nur produktiv.

Kunstwerke erzählen auch immer etwas über die Produktionsbedingungen ihrer Zeit und zeigen, welche Funktion der Wert der Kunst gegenüber den anderen wertschöpfenden Systemen hat. Der bürgerliche Kunstbegriff lebte davon, das als Gegensatz zu denken. Ist das heute, bei dem Verwertungsdruck, noch möglich? Oder muss alles zum Warenangebot im Kulturtourismus werden?

In der politischen Ökonomie des Kapitalismus dominiert zwar der Wert den Gebrauchswert, aber ohne den Gebrauchswert ist die Ware nichts. Da sich der bürgerliche Reichtum als ungeheure Ansammlung von Waren darstellt, nimmt natürlich auch die Vermittlung von Kultur Warenform an. Das schließt nicht aus, dass die Kulturprodukte dabei einen Gebrauchswert entfalten, der den bürgerlichen Reichtum und die Warenwelt transzendiert. Insofern sind Überlegungen, wie man die Produktionsbedingungen besser auslastet oder mehr Akquise bei Rezipienten tätigt und mehr Marketing betreibt, per se nichts Negatives und die Kunstform In-Frage-Stellendes.

Ich hänge nicht so einer Entfremdungstheorie an, die glaubt, dass die warenförmige Vermittlung emanzipatorische Inhalte grundsätzlich verhindert. Der Markt ist die einzige Form, an die Rezipienten, Konsumenten zu kommen. Wir haben immer noch eine starke Dominanz des öffentlichen Sektors im Kulturbereich, das soll auch so bleiben.

Kann ein System der subventionierten Kultur überhaupt ohne eine solch widersprüchliche Konstruktion von Marktwert und kulturellem Wert auskommen, selbst wenn klar ist, dass die Utopien der bürgerlichen Welt inzwischen anachronistisch sind?

Utopien sind nicht anachronistisch. Selbst gescheiterte Utopien sind Teil der Menschheitserfahrung, und aus welch anderen Zusammenhängen soll eine sich selbst aufklärende Gesellschaft schöpfen, wenn nicht aus ihren Zuversichten und aus ihrem Scheitern. Im Bereich der Kultur ist nichts umsonst, selbst wenn es mitunter oft als kulturelle Tat erscheint, sich davon etwas zu befreien. Im kulturellen Zusammenhang macht auch Scheitern Sinn.

Muss man sich Ungleichzeitigkeiten leisten?

Ja, natürlich. Das ist die Voraussetzung. Eindimensional zu leben, nur in der Jetztzeit, nur dem Trend zu folgen, voraussetzungslos gerade nur das zu kennen, von dem man sich gerade abgestoßen hat, und nur gerade noch einen Vorschein davon zu haben, wo man hinwill, ist zu wenig. Man muss die Brüche sehen, mehrere Schichten, Wegkreuzungen, Überholspuren und Sackgassen. Kein Künstler und keine Künstlerin kann heute Kunst machen, ohne sich der Voraussetzungen, die immer historisch geprägt sind, zu vergewissern. Banal seiner Intuition zu folgen, das wird es nicht mehr geben. Wir leben in der Zeit einer sehr reflektierten, modernen Produktion, für die wird die Geschichte immer wichtiger.