Schrumpf dich schön

Dessau steht Modell für die Zukunft einer Stadt, in der immer weniger Menschen leben. Statt zu resignieren, sind die verbliebenen Einwohner bereit, ihre Heimat neu zu erfinden.

Von Nina Apin

Dessau ist Avantgarde. Zumindest was das Schrumpfen angeht, ist die Stadt in Sachsen-Anhalt ganz vorne dabei: Schwindende Industrie. Rapide sinkende Einwohnerzahlen. Leere Wohnungen zuhauf in den Innenstädten. Seit der Wende verlor Dessau fast ein Viertel seiner Einwohner und befindet sich damit in bester internationaler Gesellschaft.

Weltweit schrumpfen ehemalige Industriestädte vor sich hin, von Detroit in Amerika bis Ivanovo in Russland, von Halle bis Liverpool. Die an Wachstum gewohnten Stadtplaner, Politiker und Soziologen stehen überall hilflos vor den gleichen Fragen: Was macht man mit einer Stadt, in der Schulen und Kindergärten schließen, weil der Nachwuchs fehlt? Wohin mit all den leeren Wohnungen und Industriebauten?

In Dessau lautet die Antwort: beherzter Abriss. „Unsere Zukunft ist nicht schwarz, sondern grün“, erklärt Karl Gröger energisch. Der Baudezernent präsentiert im Konferenzraum der Stadtverwaltung seine Vision. Die Powerpoint-Grafik zeigt eine Innenstadt mit grauen Sprengseln in einem Meer von Grün. Wo sich der Laie an einen löchrigen Schweizer Käse erinnert fühlt, sieht der Baudezernent „vitale Stadtinseln in einem aufgelockerten Stadtkern“. Nicht ohne Selbstironie nennt Gröger die auffällig großen Grünflächen das „grüne Band der Sympathie“.

Schrumpfen als Chance

Für die Neugestaltung der Innenstadt wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Gewonnen hat das Schweizer-Käse-Modell, in das der Baudezernent so viel Hoffnung steckt. Bis 2010 soll aus der schrumpfenden eine schlanke Stadt werden, mit weniger Wohnfläche und mehr Natur. Das Umbau-Programm hat etwas von einer radikalen Hungerkur: etwa 15.000 Wohnungen müssen weg.

Martin Krems vom Stadtplanungsbüro IBA ist Miterfinder des „grünen Bands der Sympathie“ und von Berufs wegen Optimist. Er beschwört eine urbane Wildnis herauf, die aus den „Schuttlaboren“ der Abrissflächen entstehen soll. „Die Schrumpfung ist für die Stadt eine Chance, ihre individuellen Stärken zu betonen“, findet Krems. Für Dessau hofft er auf Tourismus und Umweltschutz: Schließlich biete die Stadt mit Bauhaus, Wörlitzer Gartenreich und der nahen Lutherstadt Wittenberg drei UNESCO-geschützte Attraktionen in unmittelbarer Nähe. Nicht nur Krems hofft, dass der baldige Zuzug des Umweltbundesamtes Dessau einen weiteren grünen Bonus beschert.

Zur Vorhut der neuen Öko-Elite gehören Dirk Walter und Thomas David Die beiden Zivildienstleistenden des Amts für Umwelt- und Naturschutz sind im Einsatz auf dem Rathausplatz. Hier ist Bauernmarkt: kleine Buden, Kaninchenbuletten aus Beelitz, Spargel und Käsesuppe.

Neben dem Streichelgehege mit Kälbchen aus der Agrargenossenschaft Mosigkau türmen sich Strohballen zu einer Kletterburg. Dirk und Thomas passen auf, dass sich keines der spielenden Kinder verletzt. Thomas mit dem Kinn-Piercing liebt seinen Job. Krötenzäune bauen, Eulenpopulationen beobachten.

Er könnte sich gut vorstellen, später einmal etwas „im Umweltbereich“ zu machen, wobei er an das Umweltbundesamt noch gar nicht denkt.

Erst einmal ist Thomas glücklich, bleiben zu können. „Meine Freundin wohnt hier“, sagt er fast entschuldigend „und die Landschaft ist schön.“ Sein Freund Dirk sieht das anders. Er kann das Ende seiner Zivi-Zeit gar nicht abwarten: „Nix wie weg!“ ist seine Devise. Dirk freut sich schon auf seinen Wirtschaftsinformatik-Studienplatz in Stuttgart. Wird er einmal wieder zurückkehren nach Dessau? Nie mehr: „Hier ist doch alles tot.“

Blühendes Leben

In der Fußgängerzone entlang der Zerbster Straße ist von der Tristesse einer schrumpfenden Stadt freilich nichts zu spüren, zwischen „Bistro Cup & Cino“, „Kartoffelhaus“ und „American Sports Bar“ herrscht reger Fußgängerverkehr. Schon ein paar Straßenzüge weiter herrscht genau die Leere, der Dirk entfliehen will. Am Friederikenplatz dämmern gammlige Platten-Ensembles in der Stille. Schemenhafte Gestalten bewegen sich hinter vorgezogenen Gardinen. Wie um der lähmenden Beschaulichkeit zu trotzen, schart sich die noch nicht abgewanderte Jugend um ein bunt bemaltes Eckhaus.

Wie auf der Flucht wirkt hier niemand. Punks sitzen mit ihren Hunden auf der Treppe, ein paar Jugendliche kicken einen Ball. Unter dem Vordach des Alternativen Jugendzentrums sitzen Bettina (15), Alice (13) und Aline (14). Bettina geht im Skater-Look, Alice trägt Stachelhalsband, Alines Füße stecken in abgewetzten Springerstiefeln, alle verstehen sich als „linksalternativ“. „Wir sind eigentlich immer hier“, sagt Bettina. „Es gibt ja sonst nichts“. Ganze neunzehn Jugendeinrichtungen bemühen sich um den kostbaren Nachwuchs. Doch in den Augen von Bettina, Alice und Aline findet nur das AJZ Gnade. Alles andere ist ihnen „zu spießig“. Die drei könnten in jeder kleineren Stadt zu Hause sein. Das ehemalige besetzte Haus mit Konzertraum, billiger Kneipe und politisch korrektem Infoladen empfinden sie als ihre Heimat. Dessau mögen sie für seine Überschaubarkeit. Natürlich wissen die Mädchen, dass ihre Zukunft anderswo stattfinden wird. „Wer nicht zum Bauhaus will, muss weg“, sagt Aline nüchtern. Sie will später Medizin studieren, in Halle oder Leipzig. Und damit in einer anderen schrumpfenden Stadt die Statistik bereichern. In den Westen will keines der Mädchen. „Was soll ich da? Hier ist es doch viel schöner“, findet Bettina.

An der Heimat hängen

Schön ist Dessau an manchen Ecken durchaus. Ein paar Straßen hinter dem Jugendzentrum erheben sich prächtige Gründerzeitbauten. Hier sieht es ein bisschen aus wie in Ost-Berlin: unsanierter Prunk neben renovierten Pastellfassaden, Bäume, vereinzelte Plattenbauten dazwischen. Die Bertolt-Brecht-Straße ist mustergültig saniert. Auch die Fassade des Kulturprojekts „Kiez e.V.“ strahlt in leuchtendem Orange. Zu Wendezeiten besetzten Künstler das Haus, heute trifft man sich zu Programmkino, Ausstellungen und Lesungen.

Tilo, der auf einer Bierbank im Cafégarten sitzt, engagiert sich schon seit langem in verschiedenen alternativen Kulturprojekten. „Das ,Kiez‘ und ein paar Galerien, das sind unsere blühenden Landschaften“, witzelt er. Tilo hat sich in Bürgerversammlungen sorgfältig über die Stadtplaner-Visionen vom neuen grünen Dessau informiert. Er hofft darauf, denn er hängt an seiner Heimat. „Endlich merkt die Stadt, dass wir neue Ideen brauchen, nicht neue Gewerbegebiete“, sagt er. Für die weitere touristische Erschließung steuert er ganz eigene Ideen bei: „Neben Bauhaus und Wörlitzer Gartenreich sollte man den Besuchern auch zeigen, dass in Dessau das Giftgas ,Zyklon B‘ und die ,Tante Ju-Bomber‘ produziert wurden. Auch Adriano müsste dazu gehören“. Tilos Anliegen ist es, an den Afrikaner Alberto Adriano zu erinnern, der von Neonazis erschlagen wurde. Doch kritisch die eigene Stadtgeschichte aufzuarbeiten, das passt hier gerade niemandem.

Dessau will endlich wieder nach vorne blicken. Dazu dient sogar das zweifelhafte Prädikat „schrumpfende Stadt“. Der Stadtplaner Martin Krems ist erstaunt, wie bereitwillig sich die Bevölkerung auf das Stadtumbau-Projekt einlässt. Dessau will einfach nur am Leben bleiben - und sei es als schrumpfende Modellstadt der Zukunft. Im Trend sein: Dieses Gefühl hat man in der Heimat des Bauhauses lange vermisst.