Go down, Moses

Der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn (1728-1786) wanderte als Junge von Dessau nach Berlin. Wie fühlen sich 143 Kilometer Fußweg heute an?

von Jens Hinrichsen

Seine Eltern gaben ihm einen Golddukaten und einen Mantel mit. Viel mehr hatte der vierzehnjährige Junge nicht bei sich, als er 1743 von Dessau aufbrach, um ins etwa 150 Kilometer entfernte Berlin zu gehen, zu Fuß. Moses Mendelssohn wanderte aus und kehrte nie zurück. Er wollte um jeden Preis Gelehrter werden. In Dessau hatte er als Kind armer Juden dazu keine Chance. „Sokrates des 18. Jahrhunderts“ sollte man ihn zwei Jahrzehnte später nicht nur in Berlin nennen. In ganz Europa verehrte man Mendelssohn als jüdisch-deutschen Philosophen der Aufklärung. Kant schätzte, Lessing liebte ihn. Sein Meisterstück war der „Phädon“, den er 1767 schrieb. Von Platon ausgehend, wollte Mendelssohn darin die Unsterblichkeit der Seele nachweisen.

Aus dem Himmel über Dessau fallen ein paar Regentropfen. Ich stehe vor einem Wohnblock aus den 60er Jahren. Eine alte Marmortafel trägt die Inschrift: “Hier wurde Moses Mendelssohn geboren“. Was kurios ist: Zu DDR-Zeiten schraubte man die Gedenkplatte an den Neubau, der an der Stelle des Geburtshauses steht. So sieht es aus, als wäre der Junge zwischen realsozialistischen Betonwänden aufgewachsen.

Hier beginnt mein Fußweg von Dessau nach Berlin. Eine 143-Kilometer-Strecke liegt vor mir. Als Spurensuche taugt mein Unternehmen kaum, denn Mendelssohns Wanderschaft liegt im Dunkeln: „Meine Lebensumstände“, schrieb er später in einem Brief, „ haben mir selbst so unwichtig geschienen, daß ich nicht das Mindeste davon aufgezeichnet habe.“ Trotzdem: Ich will wissen, wie sich die Strecke unter meinen Sohlen anfühlt, will jeden Meter spüren. Die Konsequenz heißt: Sieben Tage Muskelkater.

Schwein gehabt

Ich laufe. Ab Dienstag immerhin nicht mehr auf geteerten Wegen. Und an sechs Kilo im Rucksack kann man sich gewöhnen. 35 Kilometer hinter Dessau liegt Stackelitz. Zwei sich kreuzende Dorfstraßen, ein paar geputzte Häuschen, mehr gibt‘s nicht zu sehen. Ich erkundige mich nach der „Steindammer Straße“. So heißt einer der Postwege, die Moses Mendelssohn benutzt haben könnte. „Nu, der geht hier los“, sagt eine alte Frau am Gartenzaun in beinahe vorwurfsvollem Sächsisch. Anhaltiner wissen es: im Mai 1740 soll der „Alte Dessauer“, Leopold I., auf der “Steindammer Straße“ nach Potsdam geritten sein, als sein Freund Friedrich Wilhelm I. im Sterben lag. Dessen Sohn, Friedrich der Große, war schon König, als Moses Mendelssohn unterwegs war. Lief auch Moses auf jener „Steindammer Straße“?

Heute ist das ein Waldweg unter vielen. Er führt mich ins dicht belaubte Niemandsland zwischen Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Irgendwann versagt die Wanderkarte. Ich verfranse mich wie Hänsel und Gretel. Nur der Kompass hilft mir nach Jeseriger Hütten. „Die Veränderungen in der Natur geschehen mehr nach einer krumen als nach einer graden Linie,“ schreibt Mendelssohn im „Phädon“.

“Bloß nicht in der Abenddämmerung wandern“, mahnt meine Pensionswirtin in Jeseriger Hütten und erzählt in schon leicht berlinerndem Tonfall Geschichten von bisswütigen Wildschweinen, während ich unter einem kapitalen Eberkopf sitze und seinen Artgenossen verspeise. Für Moses Mendelssohn war eine solche Mahlzeit tabu. Aber unterwegs kann er unmöglich jedes jüdische Speisegesetz befolgt haben.

Das Wandern kommt mir manchmal vor, als würde ich in der Zeit reisen. Vielleicht liegt‘s an der Landschaft: Der „Hohe Fläming“ mit seinen sanften Hügelschwüngen ist ökologisch ziemlich intakt und dünn besiedelt. 12.000 Einwohner zählt immerhin die Kreisstadt Belzig, 55 Kilometer von Dessau entfernt. Am Mittwoch komme ich dort an. Wie ein Postkartenmotiv ragt die trutzige Burg Eisenhardt vor mir auf. Unten im Tal sehe ich die Häuserreihen einer aufwändig sanierten Altstadt. Möglich wäre es, dass Moses Mendelssohn 1743 hier Station machte. „Bis in die Nazizeit gab es in Belzig immer eine kleine jüdische Gemeinde“, weiß Herr Schmöhl, der Leiter des Burgmuseums. Außer ihm interessieren sich wenige Belziger für Geschichte. Immerhin engagiert sich ein kleiner Kreis für angemessene Erinnerungsarbeit in Sachen „Roederhof“, einem ehemaligen NS-Arbeitslager. Noch trainiert auf dem Gelände der Hundesportverein.

Knapp zehn Kilometer weiter im Norden fällt der Fläming steil in das Baruther Urstromtal ab. Am Donnerstag, kurz vor der Kleinstadt Brück, lerne ich Matthias kennen. Auf einem Stück Land, das er geschenkt bekommen hat, pflanzt er Linden und Kiefern, „für meine Enkel“, sagt Matthias. Während er Wasser über die Pflänzlinge in den märkischen Sand gluckern lässt, erzählt er von einem Holzdamm an dieser Stelle, der früher einen Handelsweg sicherte, denn „überall hier war Sumpf“. Wer nach Nordosten wollte, musste genau hier durch. Vielleicht auch Moses Mendelssohn.

Freitag: Meine Füße glühen, die Gedanken werden frei. „Die Seele verhält sich niemals blos leidend, sondern ist eine immer rege Krafft,“ murmele ich mit Mendelssohn, während irgendwo ein Specht auf Kiefernholz klopft. In Fichtenwalde weht der Autolärm vom Autobahndreieck Potsdam herüber. Am Schwielowsee bläst eine steife Brise. In Caputh, wo Albert Einstein bis 1933 sein Sommerhäuschen besaß, sprühen die Sprayer „E=mc2“-Graffiti an die Wände.

Durch das Tor

Am Samstagabend erreiche ich endlich Berlin. Im Süden der damals winzigen Stadt, am Halleschen Tor, soll Mendelssohn im Oktober 1743 abgewiesen worden sein. Ebenso am Oranienburger und am Hamburger Tor, bis man ihn am Rosenthaler Tor schließlich hineingelassen habe. Für den Berliner Mendelssohn-Forscher Rudolf Elvers ist all das „hübsch erzählt, aber unbewiesen“. Doch wo sonst, wenn nicht durchs Rosenthaler Tor, kam der Vierzehnjährige hinein? Nur dort durften Juden passieren.

Für die restlichen 25 Kilometer von der Stadtgrenze bis zu dieser Stelle marschiere ich noch den ganzen Sonntag, immer auf beinhartem Asphalt. Am Oranienburger Tor biege ich in die Linienstraße ein, deren Verlauf eine alte, längst verschwundene Palisadenwehr markiert. Wo die Linienstraße auf die Rosenthaler Straße trifft, standen bis 1788 die Pfosten des Rosenthaler Tores. Was hat Mendelssohn damals gedacht und gefühlt? Das weiß ich nicht. Und die Experten auch nicht. Aber ein gewisser Erfahrungsvorsprung lässt mich triumphieren: Ein Vorsprung von genau 143 Kilometern.