MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON GERRIT BARTELS
: Krieg

Thomas Medicus: „In den Augen meines Großvaters“. DVA, München 2004, 262 Seiten, 17,90 €

Mit den Trends auf dem Buchmarkt verhält es sich wie mit den Trends im Popbusiness oder im Fernsehen: Eine, vielleicht auch eine zweite Saison vermögen sie sich zu halten, und schon gibt es wieder brandneue Trends, echte oder lediglich künstlich geschaffene. Eine Ausnahme davon bilden die Familiengeschichten und Erinnerungsbücher, in denen die Nazizeit und ihre Folgen aufgearbeitet werden. Scham, Schuld, Traumata: Aus verschiedensten Gründen wurde da unter Verschluss gehalten, was fast sechzig Jahre nach Kriegsende anscheinend mit aller Macht rausdrängt und inzwischen zu einem Dauerbrenner auf dem Buchmarkt geworden ist. Vor allem die nach 1945 Geborenen sind aufs Intensivste beschäftigt, die deutsche Vergangenheit und die ihrer Großeltern auszuleuchten. So auch Thomas Medicus, Jahrgang 1953, der sich Aufklärung „über meinen Großvater, meine Herkunft, über mich selbst“ verschaffen wollte, unter anderem, weil er mit den Jahren zu ahnen begann, „daß ostelbische Landschaften in mir abgelagert waren wie Flöze“.

In seinem Buch „In den Augen meines Großvaters“ erzählt Medicus seine und die Geschichte seines Großvaters. Diese entwickelte sich „ohne großes Zutun meinerseits wie ein Roman“, ist Medicus aber am literarischsten zu Beginn des Buches geraten. Zögerlich und auf Umwegen nähert er sich seiner Herkunft und damit auch der Figur des Großvaters: in Form von unwillkürlichen Erinnerungen, Traumbildern, biografischen Zufällen und Assoziationsketten, die sich von den Kiefernwäldern des Ostens über englische Kirchen bis zu einem Porträt des jungen und früh im Ersten Weltkrieg gefallenen englischen Dichters Rupert Brooke erstrecken. Geradezu proustisch begibt Medicus sich in Zeitschleusen und Zeitkapseln, bevor er sich anhand von Bildern, Briefen und Besuchen an das Porträt seines Großvaters macht: an Wilhelm Crisoll, dem 1895 geborenen „Offizier in drei Armeen“, der 1944 in Italien von Partisanen erschossen wird.

Wie viele andere jüngere Autoren ringt auch Medicus schwer damit, die Kluft zu schließen zwischen den eigenen familiären Banden und den schuldhaften Verstrickungen des Großvaters in Weltkriegsgräuel: Crisoll ließ in Italien drei Menschen unter Partisanenverdacht erschießen. In der bangen Hoffnung, dass hier einer aus der eigenen Familie nicht leichtfertig mit Menschenleben umging, umkreist Medicus verdächtig oft das Gerücht, Crisoll habe noch auf seinem Sterbebett darum gebeten, auf Repressalien der Zivilbevölkerung gegenüber zu verzichten, „da es sich bei den Attentätern nicht um bewaffnete Zivilisten, sondern um regulär Uniformierte gehandelt habe“. Und auch die vermeintliche „Kaltstellung“ von höherer Stelle aus, die Crisoll vor seiner Stationierung in Italien erfuhr, beschäftigt Medicus intensiv.

Am Ende kapituliert er vor der fehlenden Trennschärfe zwischen den Fakten und den aus einem Abstand von sechzig Jahren unweigerlich auftretenden Fiktionen bei den Zeitzeugen: „Man mußte sich erinnern, aber auch vergessen.“ Trotzdem macht es gerade die Qualität seines Buches aus, dass es nicht einfach nur ein weiteres kleines Teil im großen Nazi-Doku-Puzzle ist, sondern auch einen literarischen Mehrwert hat. Dass dieser die Chartnotierungen nicht gerade erleichtert, steht auf einem anderen Blatt, spricht aber eher für das Buch.

Purzelbäume

Axel Marquardt: „Rosebrock“. Verlag Antje Kunstmann, München 2004, 190 Seiten, 17,90 €

So ein präziser Blick in den Spiegel vermag den hartgesottensten 43-Jährigen ins Grübeln zu bringen. Hubert Rosebrock erkennt an diesem Morgen, da seine Frau mit verbrühten Fingern im Bett liegt und ihm seine Krawatte nicht binden kann: Er ist eine Pfeife, ein Arschloch gar. Denn Rosebrock beherrscht nicht nur keine Krawattenknoten, er ist auch sonst reichlich alltagsuntüchtig – er kann keine Espressomaschine bedienen, keine Waschmaschine, nicht Auto fahren, nicht bügeln, nichts. Nur mit Geld umgehen, das kann er, allerdings nur mit fremdem, als Direktor einer Kölner Privatbank muss er das schließlich.

Rosebrock ist der Held aus Axel Marquardts gleichnamigem Roman, und er ist ein kleiner Held in einem kleinen Roman, der nach der gespiegelten Selbsterkenntnis eine kleine Reihe von kleinen Abenteuern zu bestehen hat: ein Klassentreffen in Gummersbach, den Besuch einer Spielbank, die Nacht mit einer Nutte, die Begegnung mit einem abgemagerten Hund und die mit einer 21-jährigen Studentin, eine Radtour ins Bergische Land, eine Entführungsinszenierung. Es ist ordentlich was los in „Rosebrock“– warum, weiß man zwar nicht immer, aber offensichtlich ist: Dieser Rosebrock ist voll aus dem Tritt geraten, der lebt jetzt wild und gefährlich, selbst wenn er nur ein paar Purzelbäume schlägt oder sich in Gummersbacher oder Bergisch-Gladbacher Lokalen wie der „Alten Post“ oder der „Kupferkanne“ einen auf die Lampe gießt.

So plätschert Marquardts Roman vergnügt vor sich hin, hat hier etwas von einem Schelmenstück, ist dort wieder ein braves Roadmovie durch die rheinländische Provinz. Man könnte auch sagen: viel Spaß, kaum Ernst, viel Komik, viel Posemuckeligkeit, viel Pief. Bloß auf einen halbwegs sinnigen Plot, auf eine irgendwie nachvollziehbare Erzähldramaturgie, muss man verzichten. Da verfährt Marquardt nach dem Motto: Hauptsache, es geht voran und – ganz, ganz wichtig – es ist immer genug Pils, Whiskey oder Doppelwacholder zu trinken da. „Rosebrock“ gleicht einer Fußballmannschaft, die schön zu spielen weiß, aber nicht in der Lage ist, wenigstens einmal gefährlich aufs Tor zu schießen. Am Ende hat Rosebrock immerhin Frau und Job verloren, was ihn nicht umhaut, denn er weiß: Morgen ist wieder ein Spiel.

Sitzen lernen

Thomas Glavinic: „Wie man leben soll“. dtv, München 2004, 240 Seiten, 14 €

Kurz vor dem Ende dieses Romans des österreichischen Schriftstellers Thomas Glavinic, auf Seite 226, geht es plötzlich im Schnellverfahren durch das Leben von Charlie Kolostrum und seinen Freunden. Da reichen auf einmal wenige Sätze, um die Geschehnisse eines Jahres zu beschreiben: 1996 etwa unterscheidet sich vom Vorjahr dadurch, „daß in der Wohnung wieder zumeist Deutschrock erdröhnt“; „1997 ruft Sophie aus Ägypten an. Sie wolle heim. Ihr Mann erlaube es nicht. Man legt TripHop auf“; 1998 macht Charlies Freundin Conny eine Umschulung; 1999 geht er nicht zu den Wahlen; 2000 hört Charlie beim Taxifahren vor allem Moby, und „Conny muß es hören, Ascuas muß es hören. Sophie flieht aus Ägypten“ – und so weiter und so schwingungsarm.

Wer es bis zu dieser Seite von „Wie man leben soll“ geschafft hat, fragt sich: Warum nicht gleich so? Warum macht sich Glavinic überhaupt die Mühe, einen Roman zu schreiben über das öde Leben eines jungen, dicken, nicht besonders brillanten und nicht besonders ehrgeizigen Menschen? Alles geht so seinen Gang – das mit den Mädchen, mit dem Sex, mit der Universität, das mit der Mutter, mit der Familie, mit den Freunden, mit den komischen Jobs. Selbst zwei ungeschickte Beteiligungen an den Todesfällen eines Onkels und einer Freundin, die beide zu Mordanklagen führen, sorgen weder für zusätzliche Kicks noch werfen sie Charlie aus der Bahn. Das Leben, das ist halt so, das wird ausgesessen, schulterzuckend hingenommen, ach ja.

Nun mag es die Absicht des 1972 geborenen Glavinic gewesen sein, genau diese Ödnis auf den Punkt zu bringen. Dafür hat er sich auch stilistisch was überlegt. Er erzählt konsequent im Präsens – vielleicht um den Stillstand zu dokumentieren, vielleicht um ihn flott zu machen. Und er sagt konsequent „man“, wenn er Charlie meint – um dessen Identität und die seiner Generation schön auszuhöhlen und zu entindividualisieren. Und um seine über die Seiten verstreuten Merksätze zur Geltung zu bringen, Sätze wie: „Im Zustand sexueller Erregung steht man Dingen aufgeschlossen gegenüber, deren Reiz einem später rätselhaft bleibt.“ Zieht man aber diese Holzhammer-Ästhetik und Schmalspur-Literarizität ab, bleibt am Ende trotzdem nichts weiter als: die pure Ödnis. Nimmt man es lockerer, könnte man sagen: „Wie man leben soll“ ist ein Remake von Frank Goosens „Liegen lernen“, nur dass Charlie sitzen gelernt hat. Florian Illies wiederum würde vielleicht sagen: Wenn wir Charlie Kolostrum nicht hätten, wir bräuchten ihn auch nicht.

Groß werden

Tobias Hülswitt: „Ich kann dir eine Wunde schminken“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004, 190 Seiten, 8,90 €

Es gehört zu den geläufigen Vorhaltungen gegenüber der jungen deutschen Literatur, ihre Verfasser hätten nichts zu erzählen, sie ließen ihre Geschichten ausschließlich um die eigene Person und das bisschen Leben kreisen: Windelprosa, Schnulleralarm, Ich-und-meine-Welt-Literatur. Tobias Hülswitt, Jahrgang 1973, dürfte diese Kritik nur zu gut kennen, nicht zuletzt nach seinem Debüt, dem Provinzjugendroman „Saga“. Wohl auch deshalb hat er mit seinem zweiten Roman „Ich kann dir eine Wunde schenken“ zumindest passagenweise einen ungleich größeren Stoff gewählt und sich in ein heikles Milieu begeben: das des Fernsehens und seiner Comedy-Formate.

Nun gehört es zu den schwersten Übungen der Literatur, die Welt konkurrierender Medien und besonders des Fernsehens abzubilden, sie umzuformen und daraus tiefere Wahrheiten abzuleiten. Doch ist der Roman gerade dort gelungen, wo es ums Gagschreiben geht, um neue Formate, halt um den ganzen laufenden Schwachsinn im Fernsehen und drumherum; dort, wo sich seine Hauptfigur, der 25-jährige Hendrik Nühus, beim Fernsehen einzurichten versucht, seine Gags macht und unter ständiger Kamerabeobachtung steht. Manchmal muss Nühus die Filmrollen wechseln und kann nicht mehr recht unterscheiden zwischen Wachen und Schlafen, zwischen einem geilen neuen Bundeswehrspiel und dem Stapeln von Obstkisten beim Vietnamesen, einer Art Übung in Demut und Kontemplation. Es ehrt Hülswitt auch, keine biedere Medienkritik zu üben oder gar tief romantisch das gute, echte Leben dem bösen, falschen Medienleben vorzuziehen oder beide gegeneinander auszuspielen.

Allerdings ist das echte Leben auch das Problem des Romans: das „Eifersuchtsdrama“ (Verlag), das Hülswitt zu inszenieren versucht zwischen Nühus, seiner Freundin Laura, einer Theaterwissenschaftsstudentin, und einem Platzhirschen namens Max Dopper, dem überzeugten Fernsehmann und Vorgesetzten von Nühus. Hier sportet Hülswitt einmal mehr die juvenilen Irrungen und Wirrungen, die an genau jene Windel-Ödnis gemahnen, in der sich die jüngere deutsche Literatur tatsächlich oft befindet. Es gibt sie natürlich, diese Lebensschwierigkeiten der Twentysomethings, doch taugen sie als Stoff nur, wenn man sie literarisch aufzubereiten weiß.

Hülswitt kennt diese Problematik, das beweist sein TV-Setting. Doch hat er sich nicht getraut, das ganze „Eigentlich wollen wir erwachsen werden“- und Jetzt-Magazin-Ding radikal hinter sich zu lassen und einen Roman aus dem Fernsehmilieu zu schreiben. Da wäre ein Scheitern erlaubt und ehrenvoll gewesen; dieses Scheitern hätte vielleicht gar seine eigene Grandiosität entwickelt, sagen wir wie seinerzeit die großartig misslungene Metal-Platte der 82er-Zitatpopband ABC. So ist „Ich kann dir eine Wunde schminken“ solide, etwas unentschlossen, zwiespältig, aber immerhin: ein Anfang.