Die falsche Arznei

Reformen braucht das Land – aber die richtigen. Ein nachhaltiges Wachstum und mehr Jobs werden nur mit einer gerechten Bildungs-, Gesundheits- und Familienpolitik erreicht

Das Bildungssystem funktioniert wie unsere Medizin nach dem Zwei-Klassen-System

In den vergangenen Wochen hat sich in allen Parteien eine gewisse Ratlosigkeit breit gemacht, wie groß der tatsächliche Reformbedarf Deutschlands ist. Soll es erst einmal eine Pause geben, damit die verunsicherten Bürger wieder mehr konsumieren und die Konjunktur durch die gesteigerte Binnennachfrage befördern? Oder brauchen wir vielmehr Reformen à la Margret Thatcher, um wieder den Anschluss an die westlichen Industrienationen finden zu können?

Die Symptome der krankenden deutschen Wirtschaft sind klar: dauerhafte Massenarbeitslosigkeit, eine Wachstumsschwäche der Industrie, eine hohe Staatsverschuldung und eine demografische Entwicklung, die sowohl das zukünftig zu erwartende Wirtschaftswachstum als auch die Finanzierbarkeit unseres Renten-, Gesundheits- und Pflegesystems ab dem Jahr 2010 ernsthaft gefährdet. Viele liberale Ökonomen, aber auch SPD-Spitzen wie Wirtschaftsminister Wolfgang Clement oder der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück machen hauptsächlich die Art der Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme, den Umfang ihrer Leistungen und die hohe Staatsverschuldung für die Misere am Arbeitsmarkt und in der Industrie verantwortlich.

Dieser Diagnose ist leider zuzustimmen. Die Arbeitslosigkeit kann über das zu erwartende Wirtschaftswachstum alleine nicht mehr wirkungsvoll bekämpft werden. Die Schwelle von Wachstum, ab der Arbeitsplätze in Deutschland entstehen, liegt mit etwa 1,5 Prozent zu hoch, als dass selbst in konjunkturell günstigen Zeiten der Arbeitsplatzabbau in den dazwischen liegenden schlechten Zeiten wieder kompensiert werden könnte. Die Massenarbeitslosigkeit kann so niemals überwunden werden.

Die Hartz-Gesetze sind zwar wertvolle Hilfen für den Arbeitsmarkt, werden aber alleine nicht reichen. Sie beschleunigen den Aufbau von Arbeitsplätzen in der Aufschwungphase, in der Abschwungphase helfen sie wenig oder beschleunigen den Abbau. Dazu kommt, dass die Alterung der Gesellschaft wie eine Wachstumsbremse wirkt, die etwa ein Drittel des natürlichen Wachstums vernichten dürfte. Der demografische Wandel würde ohne weitere Reformen im Gesundheitssystem im Jahr 2030 zu Beitragssätzen von mindestens 20 Prozent führen.

Dazu kommt der Anstieg der Rentenbeiträge und der Pflegeversicherung – damit würden die Lohnnebenkosten mehr als die Hälfte des monatlichen Einkommens ausmachen, noch vor der Verbesserung der Medizin durch technischen Fortschritt und nach der Absenkung des Rentenniveaus. Es ist also ohne Wenn und Aber festzustellen, dass wir uns keinen auch nur vorübergehenden Reformstopp leisten können.

Es ist aber falsch, zu glauben, dass die alleinige Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten den Arbeitsmarkt entlasten würde. Würde man dies, wie etwa von Bert Rürup und Angela Merkel vorgeschlagen, in Form von Kopfpauschalen tun, müsste man den sozialen Ausgleich aus Steuermitteln finanzieren. Der jährliche soziale Ausgleich kostet etwa 28 Milliarden Euro zum Zeitpunkt der Einführung und steigt bis zum Jahr 2030 auf über 60 Milliarden Euro, denn auch an der Kopfpauschale geht natürlich der demografische Wandel nicht vorbei. Schon im Einführungsjahr müsste die Mehrwertsteuer angehoben werden. Fast das gesamte wachstumsbedingte zusätzliche Steueraufkommen müsste in diesen neuen Subventionsbedarf fließen. Diese Steuern würden für Investitionen in Bildung und Forschung sowie für den Abbau der hohen Staatsverschuldung fehlen.

Eine langfristige Überwindung unserer Wachstumsprobleme muss hingegen dort ansetzen, wo Effizienzdefizite durch Ungerechtigkeiten entstanden sind. Effizienzsenkende Ungerechtigkeit gibt im Gesundheits- und Bildungssystem und in der Familienpolitik. Es ist ungerecht, das Gesundheitssystem allein aus Arbeitseinkommen und Renten und ohne Rückgriff auf private Vermögen zu finanzieren. Während unser Steueraufkommen durch den Druck von Demografie und Globalisierung nur maßvoll wachsen oder sogar sinken wird, werden die Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit, Mieten, Zinsen und Kapitalerträge dagegen weiter steigen. Weshalb also sollten diese Einkünfte zur Finanzierung der Krankenversicherung nicht mit herangezogen werden, was den Faktor Arbeit entlasten würde, ohne dass die Steuern erhöht werden müssten. Dies geht natürlich nur in einer Bürgerversicherung, in der alle gesellschaftlichen Gruppen Mitglied sind.

Mit der Bürgerversicherung würde auch die wachsende Zwei-Klassen-Medizin beseitigt, die den Zugang gesetzlich Versicherter zu Spezialisten zunehmend erschwert und dazu geführt hat, dass nicht wenige begabte und gut ausgebildete deutsche Professoren in der klinischen Forschung zweitklassig wurden, weil sie sich zu viel mit der Liquidation von Leistungen für Privatpatienten beschäftigt haben. Im Bereich Gesundheit ist somit die ökonomisch sinnvolle Reform mit dem Abbau von Ungerechtigkeit verbunden, Gerechtigkeit und Effizienz treten als Paar auf. Das Gleiche gilt bei näherer Betrachtung auch für das Bildungssystem. Die Strukturreform am Arbeitsmarkt muss in den Schulen beginnen, weil auch hier wie im Gesundheitssystem hohe Kosten mit mäßigen Ergebnissen einhergehen.

Das Bildungssystem funktioniert wie unsere Medizin nach dem Zwei-Klassen-System, da die Bildungschancen wie in keinem zweiten europäischen Land vom Einkommen der Eltern abhängen. Wären unsere Schulen und Hochschulen mehr auf die Bedürfnisse sozial schwacher Gruppen eingestellt, wären mehr junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar, die Zahl der Studenten würde steigen, es gäbe mehr Wirtschaftswachstum. Langfristig würden die Lasten der Sozialsysteme sinken und die Beitragsbasis wachsen.

Es steht fest, dass wir uns keinen auch nur vorübergehenden Reformstopp leisten können

Der dritte Bereich, in dem gute Ökonomie und soziale Gerechtigkeit sich die Hand geben, ist unsere Familienpolitik, in der wir bislang mangels Angebot an Ganztagsschulen insbesondere allein erziehende Frauen aus dem Beruf drängen, was sie mit Armut konfrontiert und die Bildungschancen ihrer Kinder reduziert. In den skandinavischen Ländern hat gerade die verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch hochwertige Ganztagsschulen die Frauenarbeitsquote erhöht und die Arbeitslosigkeit gesenkt. So lange, wie diese zentralen Ungerechtigkeiten in der Gesundheits-, Bildungs- und Familienpolitik nicht überwunden werden, fehlen die Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum in Deutschland.

Reformen sind also nötig – doch die notwendige Begrenzung der Lohnnebenkosten hat bei weitem nicht den Einfluss für die Zukunft unseres Landes wie die Verbesserung der Chancengleichheit, die zu einem fairen wohlfahrtssteigernden Wettbewerb aller Mitglieder der Gesellschaft führen würde.

KARL LAUTERBACH