Die Stand-by-Kampagne

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

Alle stehlen John F. Kerry die Show. Bill Clinton mit seinen Memoiren. Michael Moore mit seinem cinematografischen Angriff auf George W. Bush. Ex-Grünen-Star Ralph Nader, der bereits seinen Vizekandidanten präsentiert hat. Donald Rumsfeld sowieso. Und natürlich der Folterskandal und die Irakwirren.

Schlagzeilen produziert der Hoffnungsträger der Demokraten und Bush-Herausforderer momentan keine. Nur gelegentlich wird darüber spekuliert, wen er denn als seinen „running mate“ auswählen könnte. Ziemlich wenig Aufregung um einen Mann, möchte man einwerfen, der in vier Monaten ins Weiße Haus einziehen will. Doch je weniger Kerry derzeit von sich reden macht, so scheint es, desto höher steigt sein Stern. Und je mehr George W. strampelt, desto mehr sinkt Bushs.

Die Zeichen stehen günstig für den Senator aus Massachusetts. In den letzten drei Monaten sammelte er mehr Spenden als der Präsident. Die Demokraten stehen weitgehend geschlossen hinter ihm. In Umfragen, sowohl landesweit als auch in wichtigen „Swing States“, liegt er entweder Kopf an Kopf mit Bush oder hat ihn überholt. Nobelpreisträger und Exdiplomaten fordern in Scharen einen Regimewechsel im Weißen Haus. Kerry startet somit in die letzten Wahlkampfrunden besser positioniert, als viele erwartet hatten, und im historischen Vergleich weitaus besser als die meisten seiner Vorgänger.

Anti-Kerry-Werbung verpufft

Ermutigend für seine Wahlmanager waren besonders die Umfragen vor allem des Fernsehsenders ABC und der Washington Post in dieser Woche. Nach der jüngsten Wählerumfrage des Gallup-Instituts vom Donnerstag sieht sogar erstmals eine Mehrheit der Bevölkerung den Irakkrieg als Fehler (siehe Kasten). In fast allen Politikfeldern schneidet Kerry überdies deutlich besser als der Präsident ab. Nur in einem Punkt, der Frage nach den Führungsqualitäten, liegt Bush knapp vorn.

Der US-Präsident konnte nicht mal vom überschwänglichen Patriotismus profitieren, der zum Jahrestag des D-Day und zum Tod von Ronald Reagan über das Land schwappte. Auch die über 80 Millionen Dollar, die er in überwiegend schmutzige Anti-Kerry-Werbung gesteckt hatte, sind verpufft. „Es sieht vielversprechend für Kerry aus“, sagt Todd Limberg vom Policy Review. Im Volk habe sich eine pessimistische Stimmung ausgebreitet, der Regierung werde kein Umschwung mehr zugetraut.

Die Demokraten haben also eigentlich Grund zur Freunde. Dennoch plagt sie ein langes und hartnäckiges Unbehagen an ihrem Spitzenmann. Die Partei – Basis und Establishment – ist motiviert wie selten zuvor, einen Präsidenten aus dem Amt zu jagen, doch ihr Kandidat weckt in ihnen eher laue Gefühle. Kerry reißt sie einfach nicht vom Hocker. Selten lösen seine Auftritte Begeisterungsstürme aus. Vielen ist er zu spröde und zu kompliziert.

Als Barometer für sein Ansehen unter den Demokraten gelten die Zustimmungswerte innerhalb der Partei. Während Bush in den eigenen Reihen 89 Prozent Zustimmung genießt, sind es bei Kerry nur 68 Prozent – ein Wert, der jedoch deutlich besser ist als einst für Al Gore, der im Juli 2000 lediglich 55 Prozent der Partei von sich überzeugen konnte.

Doch Kerry kann auch anders. Vor einer Woche hielt er vor 800 Gewerkschaftlern in New Jersey eine leidenschaftliche, engagierte Rede und begegnete Fragen mit Humor und spitzer Zunge. Er war wie ausgewechselt. Immer wieder donnerte er Sätze in den Saal, die mit „Ich trete an, weil ich“ begannen, Salven eingängiger Politikentwürfe enthielten und nicht nur Anti-Bush-Formeln wie sonst so oft. Immer wieder sprangen die Zuhörer von ihren Sitzen. „Er war einfach Klasse“, sagte ein begeisterter Stahlarbeiter.

Die Rede war gedacht als Antwort auf die Vorwürfe von Freund und Feind, dass man zwar wisse, wogegen, aber nicht, wofür Kerry stehe, und dass es ihm an einer unmissverständlichen Botschaft mangele. Hier war sie: Amerikas Abwehr gegen den Terror stärken und den Respekt in der Welt zurückerlangen. „Kerry liegt richtig, wenn er annimmt, dass die Reparatur des durch die Bush-Regierung international angerichteten Schadens wahrscheinlich eines neuen Präsidenten bedarf“, kommentierte die Washington Post.

Das konservative Blatt, lange Zeit skeptisch und wenig zimperlich im Umgang mit dem 61-jährigen Politiker, hat in den vergangenen Wochen eine zunehmend wohlwollendere Haltung gegenüber ihm eingenommen – auch was seine Antworten auf den Irakkonflikt betrifft, die von denen Bushs kaum zu unterscheiden sind. Dabei ist allerdings festzuhalten: Es ist der Präsident, der sich die Positionen Kerrys zu Eigen gemacht hat. Zum Bush-Kerry-Kurs im Irak – mehr Truppen, Nato und UNO einbinden, Abzug erst, wenn die Sicherheitslage stabil ist – gibt es nach Ansicht vieler Meinungsmacher in den USA ohnehin wenig Alternativen. Doch Kerrys Argument ist, dass der Ton die Musik macht. „Kein kühnes Angebot an die Wähler, aber vermutlich das richtige“, meint die Post.

Abseits vom Irak setzt Kerry jedoch Akzente, die ihn klar von Bush unterscheiden. Zwei Beispiele: Aus Angst, Nuklearmaterial könnte in die Hände von Terroristen gelangen, will er mit einem ambitionierten Plan innerhalb von vier Jahren alles waffenfähige Material weltweit sicherstellen, vor allem in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Er plädiert daher für eine deutliche Stärkung des Atomwaffensperrvertrags. Zudem will er die erst jüngst vom Pentagon angekündigte Entwicklung einer neuen Generationen von Nuklearwaffen stoppen. Um die Abhängigkeit der USA vom Öl aus dem Nahen Osten zu reduzieren, schlägt Kerry vor, 20 Prozent der heimischen Energieversorung bis 2020 auf erneuerbare Ressourcen umzustellen.

Das Land hat die Abenteuer leid

Wer Kerry mangelnde Visionen vorwirft, tut ihm daher Unrecht. Sie beziehen sich nur nicht auf die Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten in anderen Weltregionen. Seine außenpolitische Agenda ist weniger idealistisch. Von Demokratieexport hält er nicht viel, auch weil er glaubt, dass Amerikas moralischer Kredit derzeit aufgebraucht ist. Überdies verfügt Kerry über eine ausgeprägt fundierte und komplexe Kenntnis internationaler Krisenherde. „Er weiß, dass Reformen, gerade in der arabischen Welt, einen langen Atem brauchen und selten von außen übergestülpt werden können“, sagt Shibley Telhami, Nahostexperte an der University of Maryland und Mitglied im Think-Tank „Council on Foreign Relations“.

Kerrys oft nuancierte Sichtweise stellt jedoch ein Problem im Wahlkampf dar. Amerikaner sind kurze TV-Happen gewohnt. Viele lieben an Bush die Hau-drauf-Sprüche und schurkischen Antworten. Die Kunst für Kerry besteht also künftig darin, Kompliziertes einfach zu sagen.

Chancen dafür bieten sich ihm in den kommenden Wochen reichlich, wenn die mediale Sauregurkenzeit mit dem Nominierungsparteitag im Juli zu Ende geht. Hier und bei den Fernsehduellen im Spätsommer hinterlassen die Kandidaten ihre markantesten Spuren im Wahlvolk. Viele Beobachter glauben, dass Kerry im direkten Debattenvergleich mit Bush, zumal in freier Rede, rhetorisch eine bessere Figur abgeben wird.

Bis es so weit ist, muss Kerry einfach nur weiter auf Stand-by bleiben, zuschauen, wie sich die Sturmwolken über Bush zusammenziehen, und Kräfte für den Endspurt sammeln. „Am besten lässt er die Regierung im eigenen Saft schmoren“, rät sogar Gary Schmitt vom neokonservativen Project for a New American Century. Gefährlich wird es für denHerausforderer vorerst nur, wenn sich die Situation im Zweistromland spürbar verbessern sollte. Sehen die Amerikaner dort einen Silberstreifen am Horizont, nehmen sie vielleicht auch die positiven Wirtschaftsdaten wahr, von denen Bush bislang nicht profitieren konnte. Auch ein vernichtender Terroranschlag im Irak oder auf heimischem Boden dürfte Bush in die Hände spielen, spekulieren Leitartikler zynisch. Die Gefangennahme oder Tötung Ussama Bin Ladens wäre ein weiterer Trumpf für den Präsidenten. Auf all das aber hat Kerry keinen Einfluss.

Was den aktuellen Mangel an Aufmerksamkeit für den Herausforder betrifft, waren die Sorgen seiner PR-Berater womöglich unbegründet. Clintons Buch wird von der Presse verrissen, die Beweihräucherung seines Privatlebens droht eher nach hinten loszugehen. Der ernsthafte und nachdenkliche Kerry wirkt daneben plötzlich sympathisch. Nach Clintons Sexlügen und Bushs Kriegsschwindeleien hat die Nation der Abenteuer genug, egal ob im Oval Office oder im irakischen Wüstensand.