Der Runderneuerer

Ein neues Reportagenbuch zeigt Türken mit europäischen Visionen. Ein Auszug

VON JÜRGEN GOTTSCHLICH

Es ist ein lauer Sommerabend. Das Meer funkelt im Sonnenlicht, bevor der glutrote Ball direkt auf der Wasseroberfläche aufsetzt. Wir beobachten das Schauspiel von Büyük Ada aus, einer der Inseln vor Istanbul, die wie ein Finger ins Wasser ragt. Für einen „Sundowner“ haben wir uns im Garten einer sorgfältig restaurierten Villa niedergelassen. Das Kulturhaus wird vom türkischen Touring- und Automobilclub TTOK betrieben. Am Nebentisch sitzen zwei ältere Herren. Einer der beiden spricht uns in tadellosem Deutsch an. Wir kommen ins Gespräch.

Mittlerweile habe ich realisiert, wer unser Gastgeber ist: Celik Gülersoy, Präsident des Touring-Clubs und Hausherr der Villa. Celik Bey ist mit seinen 69 Jahren noch ein vitaler Mann. Trotz der Ferienstimmung auf der Insel ist er korrekt gekleidet. Er kann charmant plaudern, aber auch deutlich seine Meinung sagen. Zum Beispiel über die Stadtverwaltung: „Die Islamisten zerstören Istanbul. Sie haben keine Kultur. Durch sie verliert die Stadt ihre Seele.“

Ein paar Tage später empfängt mich der alte Herr mitten im historischen Viertel, unweit des Haupttors zum Topkapi-Serail, dem jahrhundertealten Sitz der osmanischen Sultane, zum Interview. Das Haus, in dem wir uns treffen, ist eine Bibliothek. Erst später erfahre ich, dass sie für Celik Gülersoy die Krönung seines Lebenswerks ist, eines Lebens, von dem man ohne Übertreibung sagen kann, dass es Istanbul geprägt, einen Teil der Stadt sogar gerettet hat.

Die Geschichte beginnt 1923. In einer großen Villa, etwas unterhalb des heutigen Taksim-Platzes, mit Blick auf den Bosporus, treffen sich im Orientsalon, dem Herrensaal, mehrere Männer und beraten über die Gründung eines Automobilclubs. Zu dieser Zeit ist Istanbul von den Siegern des Ersten Weltkrieges besetzt. In Anatolien und an der Ägäisküste tobte der Unabhängigkeitskrieg. Ein 500 Jahre altes Imperium zerbrach, doch einige Notabeln des Reiches sahen bereits weit in die Zukunft. Ein modernes Land, und das sollte die Türkei möglichst schnell werden, fanden sie, brauche eine solche Einrichtung.

Der neu gegründete Club entsprach ganz dem Geist der Zeit, in der Atatürks Reformen das Land radikal veränderten. Man hatte ein Büro in Karaköy angemietet. Die Straßen auf dem Balkan und in Griechenland waren für westeuropäische Reisende mit dem Auto praktisch unpassierbar, sodass man sich in Italien einschiffte und bis Istanbul übers Meer kam. An den Kais wurden die Automobile dann per Kran vom Schiff gehoben, und die Fahrt konnte losgehen. Für diese Reisenden organisierte der Automobilclub Stadtbesichtigungen, für die er extra Führer ausgebildet hatten, die in Französisch, Englisch oder Deutsch über die Schönheiten Istanbuls parlieren konnten.

Kurz nach Ende des Krieges trat erstmals Celik Gülersoy auf den Plan. Ein junger Mann voll Energie und Idealismus. Er wollte etwas tun für die Vision Atatürks, aus der Türkei ein modernes, europäisches Land zu machen. Und Istanbul war dafür der geeignete Platz. Dabei war Celik Gülersoy, der später auf seine Visitenkarte als Beruf „Istanbul Asigi“ (Liebhaber Istanbuls) drucken ließ, fernab vom Bosporus in Ordu am Schwarzen Meer geboren.

Die imperiale Stadt Istanbul ist in dieser Zeit dem Verfall preisgegeben. Ab 1960 verdoppelte sich jedes Jahrzehnt die Anzahl der Bewohner der Stadt von damals 1 Million auf jetzt fast 16 Millionen Menschen im Großraum Istanbul. Dazu kommt der stetig wachsende Slumgürtel, den die Ärmsten der Armen um die Stadt ziehen.

In dieser Phase übernimmt Celik Gülersoy das Ruder im Touring- und Automobilclub. Als er 1966 Geschäftsführer des Clubs wird, ist er 35 Jahre alt und fest entschlossen, seine Position zu nutzen, um in Istanbul zu retten, was noch zu retten ist. „Die massenhafte Zuwanderung aus Anatolien drohte die Stadt nachhaltiger zu zerstören als alle Kriege, Feuersbrünste und Erdbeben in den Jahrhunderten zuvor“, klagt er im Gespräch. Der kosmopolitische, gebildete Europäer Celik Gülersoy hat einen Horror vor den zuziehenden analphabetischen Massen, die seine Stadt niedertrampelten. Zu seinem geschäftlichen Erfolg verhelfen ihm paradoxerweise auch Anatolier.

Die damals so genannten Gastarbeiter in Deutschland hatten jedes Mal, wenn sie mit ihrem neu gekauften Auto zu Besuch in die alte Heimat fahren wollten, ein großes Problem. Sie brauchten für ihr Auto eine Auslandsversicherung, die ihnen der ADAC jedoch nur gegen Hinterlegung eines Pfands von tausend Mark bewilligte. Cilek Gülersoy schlug vor, dass statt des ADAC der türkische Touring- und Automobilclub den Arbeitern aus Deutschland an der Grenze eine Versicherung für ihre Urlaubswochen in der Türkei ausstellte. Für fünfzig Mark sollte es das Papier geben, dann sorgte der TTOK für Schutz und Pannendienst.

Am Anfang waren alle begeistert. Waren es 1972 noch 200.000 türkische Arbeiter jährlich, die mit ihren Autos die Grenzstation Kapikule zwischen Bulgarien und der Türkei überquerten, so wuchs die Zahl bald in die Millionen. Von dem Geld wurde nur ein Bruchteil für den eigentlichen Zweck, Versicherung und Pannendienst, benötigt. „Wir überlegten“, was wir mit dem Rest nun machen sollten.“

Schon mit seinem zweiten Projekt findet Celik Gülersoy zu seiner Bestimmung. Eine der wichtigsten touristischen Attraktionen Istanbuls, die byzantinische Chora-Kirche, drohte völlig zu verrotten. Die Kirche enthält die wertvollste Sammlung byzantinischer Mosaiken weltweit, war aber Anfang der Siebzigerjahre kaum noch begehbar. Die alten osmanischen Häuser ringsherum verslumten, die Gassen verwandelten sich bei jedem Regen in Schlammpfuhle, und ein Platz unmittelbar neben der Kirche diente als Schrottplatz. Mit der gut gefüllten Kasse des Touring-Clubs nimmt sich Celik Gülersoy 1974 des Problems an. Er kauft einige der alten Häuser in der Umgebung auf und lässt sie instand setzen. Den Schrottplatz verwandelt er in einen kleinen Park, die Straßen um die Kirche herum werden gepflastert. Als dann noch eine amerikanische Stiftung das Geld für eine aufwändige archäologische Restauration der Mosaiken aufbringt, wird die Kirche nach und nach wieder zu dem Juwel, das sie einst war.

Die Geldquelle an der Grenze sprudelt immer ergiebiger, doch der Touring-Club ist mit einem neuen Problem konfrontiert: Die Inflation nimmt seit einigen Jahren rapide zu. Celik Gülersoy, befreundet mit dem damaligen Istanbuler Oberbürgermeister Aytekin Kotil, hatte eine Idee: „Istanbul hat unendlich viele märchenhaft schöne historische Immobilien, die verkommen. Wir wollen einige von ihnen retten.“

Die Wiederherstellung des Yildiz-Parks hinter dem Sultansschloss Dolmabahce von 1078 wird zu seinem ersten großen Publikumserfolg, dem schnell weitere folgen. Nach drei Parks stürzt sich Celik Gülersoy auf das historische Zentrum des alten Stambul. In seiner Bibliothek zeigt er Fotos, die den traurigen Zustand rund um die Hagia Sophia, einst größte Kirche weltweit, dann Moschee und seit der türkischen Republik ein Museum, dokumentieren.

Direkt in der Mitte zwischen der Hagia Sophia und der Blauen Moschee kaufte Gülersoy ein verfallenes altes Herrschaftshaus, das der Club historisch getreu restaurieren ließ und in ein Hotel umwandelte. „Yesil Ev“, das Grüne Haus, ist heute eines der schönsten und begehrtesten Hotels der Stadt. Mit diesem Bau setzte Gülersoy ein Zeichen, das für alle erkennbar sagte: Die alte Bausubstanz dieser Stadt ist überaus wertvoll.

Nach und nach kaufte Gülersoy eine ganze Häuserzeile verfallender Holzhäuser entlang der Palastmauer direkt hinter der Hagia Sophia auf und ließ sie als kleine Hotels wieder aufbauen. Sein Meisterstück aber steht am Bosporus, genauer: hoch über dem Bosporus. Hier, auf der anatolischen Seite, hatte sich der osmanische Statthalter Ägyptens Mitte des 19. Jahrhunderts eine Prachtvilla bauen lassen. Das Khediven-Schloss, „Hidiv Kasri“, rottete wie andere osmanische Paläste, die nun der Kommune oder dem Staat gehörten, langsam, aber sicher vor sich hin. Dieses Haus, eine Mischung aus osmanischem Palast und europäischer Jugendstilvilla, umgeben von einem weitläufigen Park, der vom Hügel bis ans Ufer des Bosporus reicht, verwandelte Gülersoy aus einer Ruine in ein Hotel, das in Istanbul bis heute seinesgleichen sucht.

Aber wie immer und überall ruft Erfolg auch Neid und Widerstand hervor. Celik Gülersoy, ein kemalistischer Europäer, ästhetisch am späten 19. Jahrhundert orientiert, hatte es zwanzig Jahren lang immer wieder geschafft, gewählte Regierungen wie putschende Militärs von seinen Projekten zu überzeugen. Sein Niedergang begann erst, als der neoliberale, konservative Ministerpräsident Turgut Özal die Kemalisten in den Hintergrund gedrängt hatte. Für die Regierung Özal war Celik Gülersoy ein Mann der Republikanischen Partei, der anderen Seite also, und sie ließ ihn das spüren. Schritt für Schritt wurden dem Touring- und Automobilclub seine Privilegien genommen. Der zweite Golfkrieg 1991 brachte den Tourismus in der Türkei fast zum Erliegen, und mit Beginn der Kriege im ehemaligen Jugoslawien war es auch mit dem Autokorso, der alljährlich während der Sommerferien aus Deutschland und den Beneluxländern in die Türkei aufgebrochen war, vorbei.

1994 gewann erstmals in der Geschichte der türkischen Republik eine islamisch orientierte Partei die Kommunalwahl in Istanbul. Das Ereignis war ein Schock für die Kemalisten und die libertären Strömungen in der Gesellschaft. Die Boheme in Beyoglu fand sich zu Krisentreffen zusammen, man geriet in Panik und befürchtete Geschlechtertrennung und Alkoholverbot als zwangsläufige Folgen der Wahl. Wahlsieger für die islamische Refah-Partei war ein 39-jähriger Mann aus einem der ärmsten Viertel der Stadt: Recip Tayyip Erdogan, heute Ministerpräsident der Türkei, damals ein islamischer Heißsporn, dem jede administrative Erfahrung fehlte.

Erdogan und seine Mannschaft mussten damals relativ schnell feststellen, dass sie auch an der Spitze der Istanbuler Stadtverwaltung die laizistische Staatsordnung nicht aus den Angeln heben konnten. Selbst wenn sie es wollten – und es gab durchaus Äußerungen, die darauf schließen ließen, dass sie die Kneipen trockenlegen und die Trennung der Geschlechter in öffentlichen Verkehrsmitteln durchsetzen wollten –, sie kamen nicht weit. Für ihre Niederlagen auf dem religiös-ideologischen Feld entschädigten sich die Islamisten dann an anderer Stelle.

Wichtiger noch als religiöse Symbole war und ist für die Masse ihrer Wähler, endlich am Reichtum der Gesellschaft teilhaben zu können. Da das nicht so schnell zu realisieren war, boten sie ihren Anhängern erst einmal ersatzweise die städtischen Einrichtungen als Trophäe an. All die schönen Parks, Restaurants, Cafés und Schlösser Istanbuls waren Treffpunkte des Mittelstands. Auch Celik Gülersoys Parks richtete sich an den westlich orientierten, gebildeten Mittelstand der Stadt. „Früher gab es in der Türkei nur heruntergekommene, verwahrloste Treffpunkte für die Armen und wenige Inseln des Luxus für die Reichen. Ich habe Orte geschaffen, an denen sich gebildete, an Kunst und Büchern interessierte Menschen treffen konnten, ohne dafür viel Geld ausgeben zu müssen.“

Die Verträge, die der Touring-Club für die Bewirtschaftung der instand gesetzten Parks und das herrschaftliche Hidiv Kasri mit den Vorgängern Tayyip Erdogans abgeschlossen hatte, standen plötzlich infrage. In rüdem Bürokratenton wird dem Touring-Club Ende Juli, wenige Wochen nach dem Wahlsieg, mitgeteilt, dass er bis Ende Dezember seine von der Kommune gepachteten Liegenschaften „besenrein“ zu übergeben habe. An einem Septembermorgen 1994 findet im herrschaftlichen Hidiv Kasri hoch über dem Bosporus das Treffen zwischen dem alten Kemalisten und dem jungen Islamisten statt.

„Der Baskan war sehr höflich und respektvoll“, erzählt Celik Bey. „Er nannte mich Hoca“, eine Ehrenbezeigung Älteren gegenüber, die besonders in religiösen Kreisen üblich ist. Das Gespräch dauert über zwei Stunden, und Celik Bey beschwört Tayyip Erdogan, sein Lebenswerk nicht zu vernichten. Zum Schluss macht er einen Kompromissvorschlag. Zwei Parks übernimmt die Stadt, Hidiv Kasri und der Yildiz-Park sollen beim Club bleiben. Erdogan schweigt. Als er geht, kündigt er ein weiteres Treffen an.

Doch dazu kommt es nicht. Und Celik Bey wendet sich an die Öffentlichkeit. In einem offenen Brief, den er auf allen Tischen in den Cafés und Restaurants des Clubs auslegen lässt, kündigt er an, dass die neue Stadtverwaltung den Club hinauswerfen will. Die Resonanz ist überwältigend. „Meine Mitteilung löste einen Aufschrei aus.“ Der Rausschmiss wird zum Stadtgespräch, das laizistische, bürgerliche Istanbul empört sich. Sämtliche großen Blätter stellen sich auf die Seite des Touring-Clubs, Celik Gülersoy sieht seine Arbeit endlich einmal in breiter Öffentlichkeit gewürdigt.

Doch als der Konflikt erst einmal richtig hochgekocht war, ließen sich die Islamisten einen der wenigen symbolischen Siege, die sie damals überhaupt erringen konnten, nicht mehr nehmen. Alles, was die Kampagne brachte, war eine Verzögerung um wenige Monate. Im August 1995 feierte Erdogan mit seiner Mannschaft die Einweihung der Parks unter der Regie seiner Verwaltung auf dem Camlica-Hügel.

Unter dem Motto „Nationale Kultur, nationale Persönlichkeit, nationale Identität“ versammelte sich die Parteiprominenz bei Tee, Saft und Keksen gemeinsam mit arabischen Gästen. Fotos von der Eröffnung zeigten erstmals bei einem großen öffentlichen Anlass verschleierte Frauen.

Der damals 65-jährige Celik Gülersoy zog sich nach seiner Niederlage aus dem Geschäft des Touring- und Automobilclubs zurück. Celik Gülersoy war ein Pionier, der ganz wesentlich zu einem Bewusstseinswandel in Istanbul, aber auch in anderen Städten des Landes beigetragen hat. Der Präsident des Automobilclubs vertrat zuletzt Positionen, die ihn in die Nähe der westeuropäischen Grünen brachten. Er träumte von autofreien Innenstädten.

Celik Gülersoy starb am 7. Juli 2003 mit 73 Jahren. Er wurde in einem Vorort von Istanbul, am Schwarzen Meer in Kilyos, neben seiner Mutter begraben.

JÜRGEN GOTTSCHLICH, 50, ist seit 1998 Türkei-Korrespondent der taz. Der Text stammt aus seinem neuen Portraitband „Die Türkei auf dem Weg nach Europa“ (Links Verlag, 184 Seiten, 14,90 Euro)