Väterchen Angst

Russland ist heute von Stabilität und Sicherheit weit entfernt. Doch Präsident Wladimir Putin hat es mit altbewährten Mitteln geschafft, seine Herrschaft zu zementieren

Immer mehr ist Tabu: Tschetschenien, der Krieg gegen den Terror, Putins Privatleben et cetera

Der Redakteur der einflussreichen Monatszeitschrift Expert sinnierte neulich in einer Glosse, was wohl der Grund sein könnte, dass die Deutschkenntnisse des russischen Präsidenten in der Bundesrepublik so überschwänglich gepriesen würden. Schließlich gebe es andere Regierungschefs, die neben Deutsch auch noch andere Sprachen beherrschten. Über Putins Sprachkenntnisse würde jedoch in einer Weise gesprochen, als handele es sich bei ihm um einen „sprechenden Affen“, meinte er. Dem Chefredakteur des Expert ging dies entschieden zu weit: Der Redakteur wurde gefeuert. Wer heute den Namen des Präsidenten im Munde führt, darf dies nur noch in andächtigem Tonfall tun. Kritik an der Regierungspolitik mag in gewissen Grenzen erlaubt sein – Kritik an der Person Putins indes verletzt ein Tabu. Besonders verpönt ist Ironie. Seit Putin mehr als Monarch denn als gewähltes Staatsoberhaupt wahrgenommen wird, gleicht sie einem Sakrileg.

Der Historiker Wassili Klutschewski hatte im 19. Jahrhundert bemerkt, die russischen Zaren seien keine Maschinisten der Staatsmaschine, sondern „Vogelscheuchen für Raubvögel“. Entscheidend für einen Zaren war demnach nicht seine Regierungskunst, sondern die Fähigkeit, Angst zu erzeugen. Auch heute wird die Stärke des Staates in Russland vor allem daran gemessen, wie sehr sich die Untertanen vor ihm fürchten. Genau darin liegt das Erfolgsrezept Putins. Sein Image eines strengen Herrschers, das betont harte Vorgehen gegen rebellische Tschetschenen oder illoyale Finanzmoguln sind für viele Russen Beweis dafür, dass Putin wie ein echter Zar für Stabilität und Sicherheit sorgen kann.

Nachdem Boris Jelzin die Macht an Putin übergeben hatte, weigerten sich eigensinnige Oligarchen, Journalisten unabhängiger Medien, Abgeordnete der Staatsduma oder korrupte Beamte, den Präsidenten als einen von allen Makeln freien und gerechten Machthaber wahrzunehmen. Heute, nach vier Jahren, scheint Putin seine persönliche „Vertikale der Macht“ vollständig installiert zu haben. Alle einstigen Kontrahenten hören auf ihn wie auf einen perfekten Herrscher.

Manche westliche Beobachter erklären dieses Phänomen mit angeblichen Erfolgen des Kremlherrn. Allerdings sind die wichtigsten Probleme des Landes nach wie vor nicht gelöst. Die Lage in Tschetschenien ist genauso schlimm wie vor vier Jahren, terroristische Attentate außerhalb der abtrünnigen Teilrepublik häufen sich. Nach jüngsten Erhebungen von „Transparency International“ weitet sich die Korruption mit jedem Jahr aus. Rangierte Russland vor drei Jahren noch auf Platz 71 von 133 Staaten, sank es 2003 auf Rang 88 neben Algerien und Pakistan. Die marode Infrastruktur ist der Grund für eine stetig wachsende Zahl von Unfällen, auch die Zahl nationalistischer Übergriffe steigt. Sicherer und stabiler als unter Jelzin ist Putins Russland nicht.

Für die Situation in Russland bezeichnend ist indes, dass die Lage als sicher, stabil und der Staat als stark wahrgenommen werden. Dies kann nicht allein auf die staatliche Kontrolle über die Medien zurückgeführt werden. Staat und Volk schlossen erneut einen traditionellen Gesellschaftsvertrag: Der paternalistische Staat verspricht, für die Untertanen zu sorgen. Dass dieser Staat durch und durch korrupt ist, wissen übrigens die meisten Wähler Putins. Sie machen sich keine Illusionen über die Unbestechlichkeit der Bürokratie und nehmen die Korruption in Kauf. Genau darin besteht ihr Teil der Abmachung. Als Gegenleistung für staatliche Vorsorge verzichten die Untergebenen auf jegliche Einmischung in Angelegenheiten der Staatsbeamten.

Hinter der Ehrfurcht, die im Umgang mit Putin inzwischen obligatorisch geworden ist, steckt also keine Anerkennung seiner Leistungen als geschickter „Maschinist der russischen Staatsmaschine“. Die wichtigste, wenn nicht die einzige Errungenschaft, die sich Putin ans Revers heften kann, ist, die russischen Eliten nachhaltig eingeschüchtert zu haben. Zwar muss heute niemand um sein Leben fürchten, es herrscht aber eine angsterfüllte Grundstimmung, eine diffuse, scheinbar gegenstandlose Angst – wie zur Sowjetzeit.

Einst oppositionelle Politiker wagen es nicht mehr, dem Präsidenten zu widersprechen.

Zum ersten Mal seit der Perestroika üben Journalisten und Redakteure wieder Selbstzensur. Immer mehr Themen rücken in den Tabu-Bereich: Tschetschenien, der Krieg gegen den Terrorismus, Putins Privatleben et cetera. Der Fernsehmoderator Leonid Parfjonow, eine der letzten kritischen Stimmen im staatlichen Fernsehen, wurde vor kurzem gefeuert, weil er im Nachhinein das Sendeverbot für einen Tschetschenien-Beitrag kritisiert hatte.

Seitdem der reichste Mann Russlands – Michail Chodorkowski – in Untersuchungshaft sitzt, versuchen andere einst widerspenstige Oligarchen, sich mit patriotischen Gesten beim Kreml wieder einzuschmeicheln. Roman Abramowitsch investiert in russischen Fußball, Wiktor Wekselberg holt aus den USA die Juwelen der Zarenfamilie nach Russland zurück.

Chodorkowski selbst kritisierte in einem Reuebrief aus dem Gefängnis „die sinnlosen Versuche, die Legitimität des Präsidenten infrage zu stellen“. Sein Geschäftspartner Leonid Newslin, der bis vor kurzem die neu gegründete Oppositionspartei „Freies Russland“ finanzierte, zog sich ganz aus der Politik zurück. Für das Mitglied des Gründungskomitees der Oppositionspartei „Freies Russland“ Marina Litwinowitsch ist es ein Zeichen der Zeit: „Die Menschen haben Angst. Die Finanzierung der Opposition ist in Russland eine gefährliche Angelegenheit.“

Russische Geheimdienste bekommen indes immer mehr Einfluss. Umweltschützer, Bürgerrechtler und Wissenschaftler stehen unter Spionageanklage oder sind bereits zu drakonischen Haftstrafen verurteilt worden. Oleg Panfilow vom „Zentrum für Extremjournalismus“ sieht eine mächtige „Welle der Spionomanie“ auf Russland zurollen.

Dass dieser Staat durch und durch korrupt ist, wissen die meisten WählerPutins

Putins Fernsehauftritt als strenger Zar löst bei Zuschauern einen altbewährten pawlowschen Reflex aus: Sobald sie merken, dass Oligarchen und andere „Raubvögel“ Angst vor diesem Mann mit dem kalten Blick haben, steigt automatisch ihr Sicherheitsgefühl. Die Polittechnologen des Kremls bezeichnen die Wähler als Gemüse, weil diese nie ihr Beet verlassen und nur ab und zu mit Stabilitätsversprechungen begossen werden müssen. Dank dem hohen Weltmarktpreis für Erdöl bekommt das Gemüse wieder regelmäßig Löhne und Renten.

Solange der korrupte Staat und wuchernde Sicherheitsdienste noch über Ressourcen verfügen, um die bescheidenen Bedürfnisse der Wähler zu befriedigen, kann Putin die Zarenrolle weiter spielen. Erst wenn Russland die Petrodollars ausgehen, werden sich die russischen Journalisten einen unschuldigen Witz über Putin oder seine Sprachkenntnisse wieder erlauben dürfen.

BORIS SCHUMANSKY