Das Glück der Sängerin

Wenn man versteht, warum Oper eben kein Theater ist, sondern ein Drama, dessen Sinn Musik geworden ist: Anja Silja singt in der Deutschen Oper Berlin Leoš Janáčeks „Sache Makropulos“

von NIKLAUS HABLÜTZEL

Die Oper kann glücklich machen. Manchmal liegt es an der Inszenierung, die ein längst bekanntes Werk plötzlich so zeigt, dass man endlich und ohne viel nachzudenken versteht, warum es eine Oper ist, also eben gerade kein Theater, sondern etwas sehr merkwürdiges, unmögliches: eine musikalische Handlung, ein gesungenes Drama, dessen Text man bei der Aufführung zwar schlecht versteht, dessen Sinn man aber dennoch begreift, weil er Musik geworden ist. Daher besteht das Glück der Oper manchmal auch nur darin, dass ein Ensemble und ein Dirigent alles der inneren Logik der Komposition und des Klanges unterordnet. Das sind die Fälle, in denen man die Augen schließen möchte, weil das Theater stört.

Gar kein Glück hat die Deutsche Oper in Berlin. Man liebt sie nicht richtig, sie ist zu sehr im alten Westen geblieben. Die kulturpolitische Mitte liegt im Osten, dort ringen die Komische und die Staatsoper gegen- und miteinander um Profil und Spielpläne. In Charlottenburg dagegen geht soeben die Zeit des feinsinnig konservativen Generalmusikdirektors Christian Thielemann zu Ende, einen Intendanten gibt es schon lange nicht mehr, seit der Ostdeutsche Udo Zimmermann das Weite gesucht hat. Mit einer neuen Leitung unter der Kieler Opernchefin Krista Harms soll es von der nächsten Saison an weitergehen, aber niemand weiß so recht, wie. Schön wäre es, wenn man sagen könnte, alles sei offen. Aber es sieht nicht danach aus. Im ständigen Gerede über die Hauptstadt ist nicht zu erkennen, dass diese Westoper unbedingt dazugehören muss.

Aber die Oper kann glücklich machen, wenn man es am wenigsten erwartet. Dann vergisst man die Politik, sogar die Zeit, man wird einfältig und ist zu Tränen gerührt. In der „Sache Makropulos“, der letzten Premiere der Deutschen Oper in dieser Saison, liegt es nicht an der gut bewährten, einleuchtenden Inszenierung von Nikolaus Lehnhoff, die von einer alten Produktion der Glyndbourne Festival Opera übernommen worden ist, und auch nicht an Marc Albrechts Dirigat, das diesen Janáček so kräftig und klangvoll, aber dennoch stets beherrscht und klar zum Klingen bringt, wie es sich gehört. Da kann man nicht meckern, würden Berliner sagen, und ein größeres Lob kennen sie bekanntlich nicht.

Das Glück dieser Oper jedoch heißt Anja Silja. Janáčeks Figur der 325 Jahre alten Emilia Marty sei die „Rolle ihres Lebens“, hat sie in ihrer Autobiografie geschrieben, die nun auch schon in der 5. Auflage erschienen ist. Anja Silja ist heute über 60 Jahre alt, und natürlich sieht man ihr das an, und natürlich hört man das auch. Sie war ein Berliner Wunderkind, hat vor 40 Jahren mit Wagner die Welt erobert, war ein großer Star auf internationalen Bühnen. Heute ist sie etwas ganz anderes, Einmaliges, das in kein Schema des Kultur- und Unterhaltungsgeschäfts mehr passt. Sie hat keinen Status, als Kultfigur ist sie unvorstellbar. Wenn sie singt, lässt sie zuallererst ihre eigene Legende hinter sich zurück. Nie möchte sie an irgendeinen alten Glanz erinnern und nur dafür gelobt werden, dass sie es immer noch kann. Nur die Gegenwart auf dieser Bühne zählt, sie ist schließlich nicht aus Mitleid mit ihrem Alter verpflichtet worden.

Eher beiläufig kommt sie von hinten auf die Bühne, in Kostüm und Hut der Zwanzigerjahre, in denen diese Oper entstand. Die brave Dramaturgie von Capeks Libretto hat den ersten Auftritt der Hauptfigur, die eine Gesangsdiva sein soll, nach allen Regeln der Kunst vorbereitet. Anja Silja kümmert sich nicht darum. Sie spielt die Diva lieber ein wenig nachlässig, nonchalant. Sobald sie aber zu singen beginnt, ist sie das Gravitationszentrum der Szene. Dabei wird es bleiben den ganzen Abend lang. Sie ist sich vollkommen sicher, dass alle diese deklamatorischen Phrasen, die manchmal nur eine Klangfarbe in Janáčeks Symphonie für großes Orchester mit Bühnengesang sind, gar nicht anders klingen können. Rau manchmal, übersteigert auch und die Kräfte fast überfordernd, aber doch immer so, dass all die üblichen Fragen nach Stil und Geschmack langweilig werden.

Was soll dieser absurde Kriminalfall um Testamente und Erben, dessen Lösung ein lebensverlängerndes Elixier aus dem Jahr 1585 ist? Er ist nur der Rahmen für Anja Siljas Auftritt, und sogar Janáček scheint seine Musik nur geschrieben zu haben, damit diese Stimme singen kann, machtvoll gereift, ganz und gar gegenwärtig, ob im großen Fummel irgendeiner Operette, im Negligé und am Ende in Lederhose mit der Whiskeyflasche in der Hand. Alles wirkt ganz selbstverständlich, denn in alledem kehrt das Theater nur zu sich selbst zurück, als liege sein ganzer Sinn allein in diesem einen Menschen, keinem bloß imaginären Produkt der Medien, sondern einer sehr irdischen Berlinerin, die sich danach ein wenig schüchtern vor dem stehend applaudierenden, ergriffenen Publikum verneigt: das Glück der Oper.