Architektur nicht nur sehen, sondern hören

Christian Kaden erkundet, was zu hören wir verlernt haben. Das ist erhellend. Doch seine verdienstvolle Untersuchung leidet am Ende doch unter allzu viel Kulturpessimismus

Die Proportionen des Rathauses von Siena entsprechen einem Dur-Dreiklang

„Musica ad omnia extendere videtur.“ Die Musik erstreckt sich auf alle Dinge. Oberflächlich gelesen gleicht diese Sentenz des Jakob von Lüttich einer schwärmerischen Floskel. Was aber, wenn Jakob, der große Musiktheoretiker des 14. Jahrhunderts, beim Wort genommen werden wollte? Wenn er glaubte, dass die Musik wirklich alles durchdringe, vom metaphysisch Göttlichen bis zum triebhaft Bodenständigen?

Das ist die Ausgangsüberlegung, die Christian Kaden seinem Buch „Das Unerhörte und das Unhörbare“ zugrunde legt. Denn was wir heute selbstverständlich Musik nennen, hat nicht nur zu allen Zeiten einen anderen Namen getragen, es hat auch immer etwas anderes bedeutet. Musiké, musicaund gaku meinten in der griechischen Antike, im lateinischen Mittelalter und in Japan nie bloß eine mehr oder weniger kunstvolle Abfolge akustischer Ereignisse. Der Frage, was Musik alles sein und bedeuten kann, widmet sich der Berliner Musikwissenschaftler mit der ihm eigenen Mischung aus Zivilisationskritik und Diskursanalyse.

Natürlich trägt Kaden dabei einiges an musikologischem Trivia zusammen. Dass Musik ein Vehikel für Trance und Ekstase sein kann. Dass das Mittelalter nicht die Musik, sondern drei Musiken kannte, darunter die dem menschlichen Ohr unzugängliche Musica mundana der Planeten. Aber während er sich durch die einschlägigen Befunde der Musikethnologie und antiken Quellen wühlt, fördert er eben auch Bestaunenswertes zutage. Zum Beispiel, dass Musik erst seit der Renaissance als Zeitkunst gilt. Was, muss man sich fragen, ist sie vorher gewesen? Oder man lernt, dass der Begriff „musiké“ im Griechischen nicht Musik, sondern ein Mischmasch aus Poesie, Gesang, Tanz und Instrumentalspiel bedeutete. Da aber dem ursprünglicheren Wort für Musik, „melpein“ oder „molpé“, der üble Geschmack des dionysischen Rauschs anhaftete, haben restriktive Ästhetiker die Begriffe im 5. Jahrhundert v. u. Z. ausgetauscht.

Im Laufe des Buchs kommt Kaden immer wieder auf seine Lieblingsthemen zu sprechen: politische Macht, Sexualität und Körperlichkeit. Er veranschaulicht, dass die Harmonie in der griechischen Antike nur infolge eines politischen Diskurses entstehen konnte. Und er stellt die waghalsige These auf, das Reich der Karolinger hätte „buchstäblich in sich zusammenfallen müssen, hätte es den Gesang nicht gegeben“.

Die zentrale These dieses Buchs aber ist, dass der Musik in der westlichen Welt Wesentliches abhanden gekommen ist, dass sie um alles, was nicht klingt, verstümmelt worden ist. Ob man deshalb das „europäische“ Denken beständig als analytisch-zerstörerisch verteufeln, das „außereuropäische“ Denken hingegen als synthetisch-heilend verherrlichen muss, bleibt allerdings fraglich. Kann man bedauern, kein Totem zu haben und „zivilisiert“ worden zu sein? Und selbst wenn man die Frage mit ja beantwortet: Haben andere das nicht vor Kaden schon überzeugender dargelegt?

Tatsächlich ärgert man sich häufig über dieses Buch. Da ist zum Beispiel der Tonfall. Kaden kann sich nicht zwischen wissenschaftlicher Biederkeit und feuilletonistischer Farbe entschließen, und darüber wird er geschwätzig. Die beständige Suche nach Metaphern führt bisweilen zur völligen Auflösung der Begriffe, etwa wenn zwischen Denotat, Sujet, Inhalt und Programm nicht mehr unterschieden wird. Schwerer jedoch wiegt, dass Kaden oft auf Zitate, Quellen und Fußnoten verzichtet, dann aber zwischen Original und salopper Paraphrase gelegentlich die Glaubwürdigkeit auf der Strecke bleibt. Und wenn er die Avantgarde nach 1945 en passant zum missverstandenen Witz degradiert, dann ist das nicht nur tendenziös, sondern schlicht falsch.

Im Umgang mit Popkultur wird der Leser oft mit kulturpessimistischen Peinlichkeiten konfrontiert. Wer, wie Kaden, als Zeugen nur Vanessa Mae und Nigel Kennedy zu laden hat, sollte seinen Fall besser ruhen lassen. Die Bemerkung, das Industriegeräusch sei als musikalisches Material „bedrückend synchronisiert mit den Feldzügen um Rohstoffquellen“, hört sich geradezu nach einer veritablenVerschwörungstheorie an.

Gelegentlich darf man sich beim Lesen über Kadens schelmischen Biss freuen: Der Begriff Loveparade sei eine Contradictio in adiecto, bei der Minimal Music handele es sich um „Raspelwerke“. Und Johannes Keplers bizarre Schrift „Harmonia mundi“ legt den Schluss nahe: „Die Erde gebietet über einen Stimmapparat wie jedes Menschenwesen. Sie kann Latein. Und sie ist sogar der Solmisationssilben des Guido von Arezzo mächtig.“

In der wohl schönsten Passage des Buchs enthüllt Kaden, dass die Fassade des Rathauses von Siena in ihren Proportionen einem Dur-Dreiklang entspricht, eine Übereinstimmung, die kein Zufall sein kann. Man betrachtet das Gebäude und beginnt tatsächlich, Architektur zu hören. Ein kluger Musikwissenschaftler hat einmal erkannt, dass wir unter Musik wohl immer nur das verstehen, was wir zu hören gewohnt seien. Und eben dafür möchte man sich nach der Lektüre dieses Buchs ohrfeigen.

BJÖRN GOTTSTEIN

Christian Kaden: „Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was sie sein kann“. Bärenreiter & Metzler 2004, 329 Seiten, 29,95 €