„Afghanistan ist wunderschön“

Samira Makhmalbaf hat einen neuen Film gedreht: „Fünf Uhr am Nachmittag“. Ein Gespräch mit der jungen iranischen Regisseurin über unsichtbare Frauen und die schwierigen Dreharbeiten in Kabul, über ein Gedicht von Federico García Lorca und die Schönheit im Wind flatternder Burkas

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Frau Makhmalbaf, im Iran klagen zurzeit einige Regisseure über verweigerte Drehgenehmigungen und zensierte Drehbücher. Ist es einfacher, in Afghanistan zu filmen?

Samira Makhmalbaf: Natürlich sind wir im Iran mit einer Menge Einschränkungen und auch mit Zensur konfrontiert. Aber maßgeblich war für mich, dass ich eine tiefe Zuneigung zu den Menschen in Afghanistan verspürte. Als mein Vater „Kandahar“ in Cannes vorstellte, sagte jeder: Aber warum drehen Sie einen Film über ein so vergessenes, ein so unwichtiges Land? Dann kam der 11. September 2001 und mit ihm die Nachrichtenflut. Doch zugleich dachte ich: Man bekommt nicht zu sehen, was in Afghanistan geschieht, man hört die Stimmen der Menschen nicht. Vor diesem Hintergrund wollte ich den Menschen in meinem Nachbarland helfen, zu ihren eigenen Ausdrucksformen zu finden.

Die Taliban sagten der visuellen Kultur im Allgemeinen und dem Kino im Besondern den Kampf an. Wie war es, in einem von Bilderfeindlichkeit geprägten Umfeld einen Film zu drehen?

Sehr schwierig. Von den Frauen zum Beispiel gab es keine Bilder, da sie unter der Burka steckten. Sie wollten nicht vor die Kamera. Wenn ich beim Casting fragte: „Wollen Sie in einem Film mitspielen?“, dann wusste ich nicht, dass das Wort „spielen“ auch „tanzen“ bedeutet – und zu tanzen wäre gegen ihre Traditionen. Sie bekamen daher Angst und mieden mich. Um Aghele Rezaie [die Darstellerin der Hauptfigur Noqreh] zu finden, habe ich mit so ziemlich allen Frauen in Kabul gesprochen.

Galt das auch für die männlichen Laiendarsteller?

Das war ähnlich schwierig. Wenn Sie sich den Film meiner Schwester Hana ansehen …

„The Joy of Madness“, das Making-of zu „Fünf Uhr am Nachmittag“ …

… dann erinnern Sie sich sicher an den alten Mann, der zunächst die Rolle des Vaters übernehmen wollte und später absagte. Die Menschen sind nicht ans Kino gewöhnt. Sie halten es für eine Sünde.

In „The Joy of Madness“ hat es den Anschein, dass Sie sich beim Casting und in der Schauspielerführung durchzusetzen wissen. Müssen Regisseure und Regisseurinnen so willensstark sein?

Sie meinen, jedes Mal, wenn ich die Darsteller dazu aufforderte, etwas zu tun? Wenn es einem nicht ernst ist und man die Leute nicht dazu bringt, auf einen zu hören, dann macht man keinen Film, schon gar nicht in Afghanistan. Also musste ich so auftreten.

Die Hauptfiguren von „Fünf Uhr am Nachmittag“ sind gegensätzliche Charaktere. Der Vater ist den islamischen Traditionen verpflichtet; die Tochter will Präsidentin werden. Wie sehen Sie das Verhältnis der beiden?

Für mich ist es die Geschichte zweier unterschiedlicher Generationen in Afghanistan: der alten und der jungen. Und die Geschichte von Männern und Frauen. Der Vater glaubt stark an etwas, und das setzt die junge Generation unter Druck. Dennoch bekämpfen sie sich nicht, sondern leben miteinander. Die Tochter versucht, den Vater zu respektieren, aber sie versucht auch, ihre eigenen Wege zu gehen.

Der Titel des Films geht auf ein Gedicht des spanischen Dichters Federico García Lorca zurück, „La cogida y la muerte“ („Der Hornstoß und der Tod“). Darin geht es um den Tod eines Toreros in der Arena. Im Film wird es mehrmals rezitiert und dadurch fast leitmotivisch eingesetzt. Wie kam es dazu?

Das ist schwierig zu sagen. So etwas geschieht einfach, denn Film ist ja keine Mathematik. Es hat damit zu tun, dass ich das Gedicht sehr liebte, als ich ein Kind war. Ich glaubte, es handele vom Tod eines Stiers statt vom Tod eines Toreros. Nur ein Dichter, dachte ich damals, kann dem Tod eines Tieres so viel Bedeutung beimessen und solche Worte dafür finden.

Bei García Lorca ist „Fünf Uhr am Nachmittag“ der Augenblick kurz nach dem Tod, der, in dem die Zeit stillsteht.

In Afghanistan sind tausende Menschen gestorben. Ich hatte das Gefühl, dass es eine Parallele gab zwischen der Post-Taliban-Zeit und Lorcas „Fünf Uhr am Nachmittag“.

Warum setzt Ihr Kameramann, Ebrahim Ghafori, die blauen Burkas der weiblichen Figuren so effektvoll in Szene?

Auf den Straßen von Kabul sah ich all diese blauen, wunderschönen Burkas, und daher sollten sie auch im Film eine Rolle spielen. Ähnlich verhält es sich mit den Regenschirmen und mit Noqrehs Schuhen: Sie wanderten aus der Wirklichkeit in die fiktive Welt des Films. Genauso die Ruinen: Sie sind überall, aber zugleich sind sie sehr surreal, und daher geben sie dem Film eine surreale Note.

Sehen Sie es als Widerspruch, wenn Ihr Film mit der Schönheit der wehenden, flatternden Burkas einen Teil seines visuellen Konzepts bestreitet, während Sie dieses Kleidungsstück als Symbol der Frauenunterdrückung ablehnen?

Manche Leute denken, dass schmerzhafte Dinge immer hässlich sein müssen. Aber manchmal ist etwas, worunter man leidet, schön. Wenn Sie jemanden ansehen, der weint, dann sind seine Augen schön – selbst wenn man weiß: Dieser Mensch leidet. Afghanistan ist nicht hässlich, es ist wunderschön. Die Burkas sind schön und im selben Augenblick ein Gefängnis. Schönheit und Schmerz können dicht beieinander liegen.

Ghafori arbeitet außerdem mit ausgeprägten Helldunkelkontrasten. Am Anfang etwa, wenn Noqreh auf dem Weg zu ihrer Schule durch eine Unterführung geht. Im Innern ist es stockdunkel, im Bildhintergrund zeichnet sich der Ausgang und damit eine blendend helle Fläche ab.

Der Kontrast ist in der Kunst ein Mittel, um Schönheit zu erreichen. So wie Harmonie schön sein kann, so kann es auch der Kontrast. Zugleich geht es aber hier um etwas Inhaltliches: Bevor Noqreh zu ihrer Schule geht, muss sie durch die Dunkelheit – nämlich in die Koranschule. Außerdem sind die Straßen von Kabul genauso. Wenn man sich dort bewegt, gelangt man von einem Augenblick auf den anderen von der Helligkeit in die Dunkelheit.