Eigentlich sind wir ja mit dem Fahrrad da

Lange Zeit war das Auto der schlimmste Feind der Grünen. Zumindest offiziell, wenn man nicht gerade aufs Land fuhr, Unabhängigkeit und Freiheit genoss. Damit ist jetzt Schluss. Heute bekennen sich die Grünen nicht nur zum Auto, sondern auch zu all den anderen Lebenslügen. Nur das hat Zukunft

VON JAN FEDDERSEN

Die grüne Prominenz mag keine Auskunft geben. Nein, heißt es den Büros der Ministerien Jürgen Trittins oder Renate Künasts, eine bündige Absage auch aus dem Hause des grünen Parteisprechers Reinhard Bütikofer. Niemand von ihnen will verraten, was die Ökopromis denn so machen in den Sommerferien – und mit welchen Verkehrsmitteln sie dies realisieren werden. Mit der Bahn oder dem Fahrrad – wie das grüne Urgewissen es ihnen gewiss abfordert? Oder doch mit dem Flugzeug oder dem Auto – Transportinstrumente, die zu nutzen ein schlechtes Gewissen hervorruft? Bleiben sie in eigener Sache diskret, weil sie Ruhe haben wollen? Oder halten sie sich mit Auskünften zurück, weil sie etwas tun, was noch vor zehn Jahren verpönt war: die Welt nach den Regeln des dolce vita im Auge zu behalten?

Schuld: die Kernvokabel grüner Weltanschauung

Nur Claudia Roth, la passionara der Regierungsökos, ist auch in dieser Frage offenherzig. Unumwunden heißt es aus ihrem Abgeordnetenbüro, sie werde ihr geliebtes Ligurien samt Toskana besuchen und später in die Türkei reisen. Italien, heißt es weiter, würde sie von Bayern aus mit der Bahn erreichen – aber nach Anatolien nimmt sie einen Flieger.

Warum auch nicht? Allein: Noch vor acht Jahren wurde ernsthaft auf einer grünen Bundesversammlung, ausgerechnet im weltvergessenen Suhl/Thüringen, diskutiert, grüne Funktionäre dürften innerdeutsch keine Flugzeuge nutzen – die Kerosinabgase schädigten allzu stark die Luft. Man würde sich schuldig machen an der Welt, machte man einfach mit. Schuldig – das ist das entscheidende Stichwort bei jeder Weltanschauungsdebatte der Grünen seit ihrer Geburt Ende der Siebzigerjahre.

Grüne wollten nicht schuldig werden. Nicht an der vergötterten Natur (oder das, was sie dafür hielten) und nicht am Leben überhaupt. Die mentalitär satteste Grundierung der Ökos war die des Rückzugs aus der wirklichen Welt – gepaart mit missionarischem Drang, alle anderen mögen es ihnen gleichtun. Bizarr, aber wahr: Katja Ebstein schlug schon Anfang der Siebziger mit ihrem Song „Hinaus aufs Land“ den passenden Ton für das Lebensgefühl von Grünen an. Dort finde sich das Paradies, ebenda das bessere Leben. Am besten ohne Auto, Fernsehen, Radio – kurz: ohne schädliche Einflüsse einer Zivilisation, die man grosso modo ablehnte.

Ein tiefer Zug ins Protestantische, in den selbstgeißelnden Verzicht auf Überfluss, umflorte die Szene. Denn schuldig war man ja schon geworden, denn die Gleichen, die aus den Metropolen aufs Land, in Bauernhäuser zogen, die später die Toskana zur idealen Weltbauerngegend verklärten, jene waren es auch, die ein ganz anderes Lebensgefühl kultivierten. Und zwar mit Hilfe amerikanischer Kultur. Die wichtigsten Beiträge jener Jahre handelten allesamt von Bewegung, von Mobilität und Aufbruch. Filme wie „Easy Rider“, viel später, feministisch inspiriert, „Thelma & Louise“; die Bücher Jack Kerouacs, die von nichts anderem als Suche und Neugier und Staunen handeln; die Neigung zum Camping (und die geliebten und, wer keinen hatte, beneideten VW-Bullys!) oder zum Trampen. In jedem Fall waren Automobile die Voraussetzung, um überhaupt der heimatlichen Enge zu fliehen – um ein neues Leben zu probieren, es wenigstens in den Blick zu nehmen.

Keine technische Erfindung hat den Freiheitsdrang von Menschen überhaupt stärker ermöglicht wie eben das von Hardcoregrünen moralisch diskreditierte Auto. Mit ihm war Urlaub, eine Zeit für das Fremde, möglich. Für Westdeutsche, vor allem während der Nachkriegszeit, ganz besonders. Eine Zeit, als es galt, die Welt nicht als Herrenmenschen zu betreten (und zu zerstören). Man tuckerte über die Alpen, aß seltsame Gerichte, Spaghetti carbonara oder Pizza calzone, die so gar nicht an Gulasch und Schweinebraten erinnten, traute sich nach Frankreich, aß dort ein Weißbrot, das Baguette hieß, wagte einen Ausflug nach Dänemark, wo man Bekanntschaft mit grellroten Würstchen im Pappbrötchenmantel machte, fuhr nach Amsterdam oder Brüssel, guten Grases wegen oder der Pommes frites. Und man sah und erkannte: Neues. Anderes, Fremdes, Gutes.

Das Schönste aber war: Das Auto machte einen unabhängig von (fast) allem, was einem das Gefühl von Unfreiheit gab. Also von Fahrplänen, Abreisezeiten oder Zwang (bei Gruppenreisen) überhaupt: Dass man gelegentlich in Staus fuhr und fährt? Einerlei. Hatte und hat man ja selbst zu verantworten. Das Auto – das war und das ist das wichtigste Verkehrsmittel, und zwar weltweit. Ein Traumgefährt, das zwar rußt und dieselt, aber unabhängig macht. Auto fahren, Musik hören, dabei sinnieren, die Welt vorbeifliegen lassen, als sei sie ein Landschaftskino in Cinemascope – fantasierte Topografien einer schönen Welt – und als würde sie bei einer nächtlichen Fahrt durch eine Industriekulisse selbst inszeniert.

Fundikritik am Auto? Nein danke, bitte ohne uns

Die Grünen haben lange nicht begriffen, dass am Auto vorbei keine wenigstens halbwegs populäre Politik zu machen ist. Immerhin haben sie im Frühjahr, wenn auch zerknirscht, eingestanden, dass grünes Engagement nicht mehr antiautomobil funktionieren kann. Der Versuch, in jeder Hinsicht das Auto zu verpönen und es nur als lästiges Relikt aus industrialistischen Zeiten zu nehmen, hat ja keine Entsprechung in den real existierenden Zahlenwerken. Grüne Wähler fahren öfter und weiter mit dem Auto als Unionswähler; sie fliegen öfter als andere und weiter sowieso. Der Unterschied zu allen anderen Wählergruppen ist einfach: Grüne sind materiell privilegiert, ihre K(l)assenlage ist eine abgepolsterte. Sie mögen keinen Ballermann, aber die feinstausgerüstete Finca (Geschirrspüler, Satellitenschüssel, energiegespeist aus Sonnenkollektoren auf dem Dach) im mallorquinischen Hinterland.

Späte Einsichten in die Lebenswirklichkeit der eigenen Wählerkundschaft. Erinnert sei nur an den Beschluss zum Fünf-Mark-Benzinpreis vom Parteitag 1998 in Magdeburg: Die Bild-Zeitung hätte gar nicht zu hetzen brauchen – die Grünen waren durch diese Beschlusslage (die ja weniger signalisierte, dass Rohstoffe teurer werden, sondern mehr den Dünkel wider die Lust am Automobil zu Protokoll nahm) auch mit geringerer öffentlicher Bekanntgabe als nicht mehr ganz bei Trost kenntlich geworden.

Die Grünen sind klüger geworden, sie wissen, dass sie die einzige Ökopartei weltweit waren, die das Automobil für die Signatur des Unwirtlichen hielten. Ihr Publikum gewöhnt sich nur schwerfällig an eine Zeit, in der es nicht mehr darum geht, dieses Transportmittel in toto zu verdammen – sondern bessere Autos, per Konsumentendruck beispielsweise, zu fordern. Immer noch heißt es in Familien beim Ausflug ins Grüne, der, um die Vororte zu überwinden, mit dem Auto begonnen wird: Eigentlich sind wir ja mit dem Fahrrad da.

Die grünen Zeiten der protestantisch inspirierten Mission scheinen tatsächlich an einem verdienten Ende. Selbst die Konsumismuskritik trifft nicht mehr. Aus dem Lebensgefühl, zu viele Waren erworben zu haben, ist eines geworden, das darauf schwört, jetzt die richtigen Kaufentscheidungen treffen zu können. Die Statistiken sagen: Grüne kaufen gern und viel und teuer. Ob bei Manufactum, Grüne Erde oder bei Einzelhändlern, die Delikatessen im Angebot führen. Man isst gern und fein und nennt es Slow Food. Man macht Ferien und nutzt gern ein Flugzeug. Freut sich über schöne Hotels und hält überhaupt auf das gute, das bessere Leben.

Das wird sich im Übrigen auch in Wahlprozenten ausdrücken. Eine Partei, deren Milieus nicht mehr nur hinaus aufs Land wollen, um sich von der Welt fern zu halten, um sich reinlich zu halten vom Schmutz der „Unwirtlichkeit der Städte“ (Alexander Mitscherlich): die hat Zukunft. Das ist keine Formation mehr der Frommen und Sauerlaunigen und Übelnehmenden. Sie würde an das Lebensgefühl der Fünfziger anknüpfen, als die Westdeutschen lernten, das Fremde, die Fremden an sich heranzulassen, indem man sich auf sie einlässt, in Rimini, am Wolfgangsee oder in Kroatien: beim Grillabend, in der Dorfdisko.

Die Welt braucht nicht weniger Autos, sondern viel mehr. Die meisten, die keines haben, träumen ohnehin von einem. Also braucht man bessere Autos. Solche, na klar, mit geringem Schadstoffausstoß und zugleich gutem Komfort. Auf dass noch mehr gereist wird, auch weiter. Wer die Welt besser kennt, nimmt die Heimat als schrecklich oder kostbarer wahr – relativer zum Rest der Welt dann ohnehin. Das Auto hat bei diesem neuen deutschen Lebensgefühl geholfen: Fahr weg und guck dir das Andere wenigstens mal probeweise an. Wann es losgeht, per Zündschlüssel, hängt nur von einem selbst ab.