Das „System Banane“ setzt sich durch

Toll Collect, massenhaft Autorückrufe und zerbrechende Straßenbahnen: Liegt der Grund einer Serie von Misserfolgen deutscher Ingenieurarbeit in der neuen Organisation der Entwicklung? Junge Abteilungsleiter stecken in der Klemme

„Ein Drittel unserer Arbeit verwenden wir darauf, diese Systeme zu betrügen“

von WOLFGANG NEEF

Deutsche Großunternehmen landen einen Flop nach dem anderen. Gerade erst haben die Kommunen, die auf den Weltkonzern Siemens vertrauten, Millionenschäden durch die Combino-Straßenbahn zu verkraften, nun jagt eine Rückrufaktion auch in der Automobilindustrie die andere, selbst bei Renommierfirmen wie Mercedes. In den letzten sechs Jahren haben sich die Rückrufe über das Kraftfahrtbundesamt fast verdreifacht; 2003 waren es 144.

Gute Technik und gute Organisation zusammen – das war „made in Germany“. Sind unsere Ingenieure inzwischen Versager? Spüren wir die Folgen eines Technik-Pisa? In der Tat hinkt die deutsche Ingenieurausbildung schon seit Jahren hinter dem internationalen Standard her, und Industriebosse wie Milberg (BMW, selbst Ingenieur) beklagen zu Recht, sie sei zu eng, zu fachborniert und zu wenig auf team- und prozessgeleitetes Arbeiten orientiert. Seit mehreren Jahren wird auch beklagt, es würden zu wenig Ingenieure ausgebildet: Die Zahl der Studienanfänger ist von 1990 bis 1997 um fast ein Drittel zurückgegangen.

Übersehen oder verschwiegen wird jedoch, dass wesentliche Ursachen für die Misere in den Betrieben zu finden sind. Die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen wurden in den letzten 20 Jahren halbiert oder outgesourct und dazu noch ständig umstrukturiert auf design to cost, ältere Ingenieure in den Vorruhestand genötigt. Anspruchsvolle technische Ziele sollen in immer engerem Zeit- und Kostenrahmen erbracht werden.

Rückmeldungen der Belegschaften, die gesetzten Ziele seien angesichts der komplexen technischen Probleme so nicht mehr erreichbar, werden ignoriert. Stattdessen werden mehr und mehr Controllingsysteme eingesetzt, um die festgesetzten Ziele des Topmanagements durch gehaltswirksame Belohnungs- und Bestrafungssysteme doch noch durchzudrücken. In engen Abständen wird der termin- und kostengerechte Fortgang der Arbeit geprüft: Durch Eingabe aller Daten in Systeme wie das „ERP“ (enterprise resource program) von SAP. Bei Abweichungen gibt’s Minuspunkte.

„Für diese Systeme und Unternehmensberater ist immer Geld da, für sorgfältige Arbeit aber nicht“, sagt ein Kollege aus dem Flugzeugbau, der nicht genannt werden will. Eingeklemmt zwischen den technischen Schwierigkeiten und diesem Druck, reagieren die Ingenieure deshalb mit Unterlaufungsstrategien und zunehmend mit Gleichgültigkeit. Es werden Qualitätsmängel in Kauf genommen – man sorgt lediglich dafür, dass die Verantwortung für die Fehler nicht bei einem selbst hängen bleibt.

„Nirgendwo wird so viel gelogen wie beim Einbuchen ins ERP“, sagt der Flugzeugbauer. „Ein Drittel unserer Arbeitskapazität verwenden wir darauf, diese Systeme zu betrügen“, ergänzt ein Elektroingenieur aus dem Süden der Republik.

Die ständigen Umstrukturierungen zerstören zudem die persönlichen Beziehungen in der Ingenieurgemeinde, und die interne Konkurrenz nimmt zu. Wenn man unsicher war, ob die gewählte Lösung tragfähig ist, fragte man bisher schon mal erfahrene Kollegen aus der anderen Abteilung oder bei der Konkurrenz. Dazu muss man aber wissen, wer an welcher Stelle welche Funktion hat – und der Kollege muss sicher sein, dass seine informelle Auskunft nicht ausgenutzt wird.

Hinzu kommt, dass immer mehr Personalentwickler sehr junge Ingenieure in Führungspositionen befördern. „Die sind einfach zu unerfahren und unsicher, haben oft nur Halbwissen – werden aber ausgewählt, weil sie biegsam und strebsam sind“, erzählt der Flugzeugbauer. „Mit 38 kriegen sie einen Dreijahresvertrag als Bereichsleiter, Riesendruck von oben und engste Kostenziele – da braucht man sich nicht zu wundern, wenn sie eine absolute Brutalität entwickeln und im Zweifel die Qualität der Arbeit hinten runterfällt“. Bei ersten Problemen bekommen die neuen Abteilungsleiter Minuspunkte vom Controlling. Panik bricht aus. Jetzt werden Fehler einkalkuliert, um den Termin halten zu können. „So planen wir die Nachbesserung schon ein, statt die Fehler auszubügeln.“ Es heißt das „System Banane“: reift beim Kunden. Zeit- und Kostendruck verkürzen die Testzeiten für das Gesamtsystem, Rechneranalysen ersetzen Tests. „Dieser Prozess ist meiner Meinung nach nicht mehr zu stoppen.“

In der IT-Industrie erklärt man die Fehler in der Elektronik von Automobilen mit dem gleichen Muster: Die Kosten für die Chipentwicklung steigen durch Verkleinerung und Realisierung mehrerer Funktionen auf einem Chip rapide an und liegen in Größenordnungen von 15 Millionen US-Dollar. Genau das Zusammenwirken mehrerer Funktionen aber macht die Schwierigkeiten aus – die sind aber physikalischer Natur und nicht durch betriebswirtschaftliche Vorgaben wegzudefinieren.

Der Autor ist Ingenieur und Soziologe an der TU Berlin