Askese im Konsum

Der Philosoph Alfred Pfabigan analysiert, ob die neue „Geiz ist geil“-Stimmung ein Gag ist oder das Komsumverhalten wirklich ändert

VON MICHAEL RUTSCHKY

Es spricht sich rum, dass der Konsumismus die Ideologie, ja die Lebensform ist, die die kapitalistische Welt beherrscht. Sie hat den real existierenden Sozialismus zum Einsturz gebracht, wie man sich immer mal wieder von denen erzählen lassen kann, die in ihm gelebt haben; wie es der Ostberliner erlebte, wenn es für seinen Westberliner Besucher eine Kleinigkeit war, guten Kaffee oder Käse mitzubringen. Der Beitrag der türkischen Obst- und Gemüsehändler ist notorisch. Als die Ostdeutschen deren Auslagen sahen, von der Banane bis zum Granatapfel, mussten sie denken, hier ist das Paradies.

Was am Konsumismus als herrschender Lebensform auffällt: dass er nur wenig intellektuelle Aufmerksamkeit anzieht. Zwar hat der fürwitzige Norbert Bolz 2002 ein konsumistisches Manifest veröffentlicht, aber das manifestierte eben vor allem diesen Fürwitz. Pierre Bourdieus meisterhafte Darstellung der feinen Unterschiede (1982), in denen sich die Klassengesellschaft schärfer auspräge als im Gegensatz von Kapital und Arbeit, kam in der Intelligenzija, wenn ich richtig sehe, nur undeutlich an. Das mag damit zusammenhängen, dass Bourdieus Beschreibungen zu folgen die Intelligentzija kränkt. Sie erhält einen Platz zugewiesen in diesen Kämpfen, statt von ihnen freigesprochen zu werden (aber das ist ein anderes Thema, „die Bourdieu’sche Kränkung“).

Der Wiener Philosoph Alfred Pfabigan veröffentlicht jetzt ein Buch, das den Konsumismus durch Geistesgegenwart zu stellen versucht. Seine Thema ist die aktuelle Version der Askese, die unter der hübschen Parole „Geiz ist geil“, wenn man den Ökonomen glauben darf, die Konjunktur daran hindert, sich zu beleben.

Pfabigan greift aus. Er beschreibt den Konsumismus, wie er sich in der Nachkriegszeit ausbreitet, nach den Vorgaben der Kulturkritik, wie sie sich ihm widmete, von Erich Fromm über Herbert Marcuse bis zu den Mitscherlichs. Die Kulturkritik verwarf den Konsum als falsches Bewusstsein, als verfehltes und entfremdetes Leben; die ehrwürdige Unterscheidung zwischen „wahren“ und „falschen Bedürfnissen“ wird noch in diesem oder jenem Kopf sein. Inzwischen verlagerte sie sich vermutlich auf gute und schlechte Waren, wie sie Ökologie und Globalisierungskritik definieren.

Tapfer verabschiedet sich Pfabigan von der Konsumkritik als philosophisch geadelter Disziplin (die im Grunde einem metaphysischen Unterschied von Geist und Materie verhaftet blieb und nur eine einzige Ware, das Buch, als höher denn bloß materiell anerkannte). Was Pfabigan interessiert, ist ebenjene aktuelle Form der Askese, und ich bin mir unklar darüber geblieben, ob hier nicht der Antikapitalismus wiederkehren soll. Die Avantgarde, die Geiz geil findet, bereitet womöglich doch den großen Zusammenbruch vor, aus dem eine gereinigte Menschheit erwacht?

Pfabigan vermeidet es klug, die apokalyptische Perspektive direkt einzunehmen. Stattdessen erörtert er en detail, welche verschiedenen Formen sich hinter der neuen Askese verbergen – was ein wenig an den Diskurs der Marketingstrategen und Werbefuzzis erinnert, wenn sie die Orientierungen der Konsumenten operativ zu analysieren versuchen: der Flohmarktkunden und der Sonderangebotler, der Manufactum-Fetischisten und der Niedrigpreisabhängigen. Das liest sich lustig und intelligent. Aber es bleibt undeutlich, was die Distinktionen bringen. Werden hier, wie gesagt, doch noch die letzten Heerscharen aufgestellt, bevor die große Reinigung hereinbricht?

Das Problem ist wohl, dass Pfabigan nach der gewohnten Manier der Geschichtsphilosophie ein aktuelles Thema so traktiert, als seien seine Dimensionen in Vergangenheit und Zukunft schon vollständig zu übersehen. Ob „Geiz ist geil“ ein kurzfristiger Gag ist, eine Mode, oder eine weitreichende Veränderung des Konsumverhaltens anzeigt, wissen wir aber nicht. Ich neige dazu, eine Verfeinerungsstrategie darin zu erkennen; so wie die primitive „Fresswelle“ der Fünfziger zu einer unglaublichen Ausdifferenzierung des Speisezettels führte, die unterdessen auch die kargsten Rezepte so offeriert, dass sie für Gourmets brauchbar sind. Man muss die Askese innerhalb des Konsums verorten, statt sie, wie hypothetisch auch immer, als dessen Ende zu diagnostizieren.

Alfred Pfabigans Schrift leidet hier daran, dass sie ein Buch ist. Bücher kommen, auch wenn sie broschiert sind und bloß 190 Seiten zählen, immer noch viel zu gewichtig daher; „Geiz ist geil“ bietet aber allenfalls ein Zeitschriftenthema. Entscheidend aber leidet Pfabigans Werk daran, dass der Konsumismus insgesamt so unbefriedigend bearbeitet ist; sein Anmerkungsapparat erweckt den Eindruck, als habe er sich auf lauter Zufallsfunde beschränken müssen.

Uns fehlt die einfachste Phänomenologie des Konsums. Während sich die Kulturkritik wutschäumend darüber auslassen kann, welch furchtbaren Verlust es bedeutet, dass Hölderlin dem jungen Deutschen wenig sagt, fehlt uns beispielsweise jede Beschreibung des Autofahrens als Bildungserlebnis, obwohl auch der Kulturkritiker selbst sich ihm immer wieder widmet. Roland Barthes’ berühmte Formel von 1957, das Auto sei das Äquivalent der gotischen Kathedralen, blieb für die Essayistik sowohl in deskriptiver wie in begrifflicher Hinsicht folgenlos. Immerhin: Barthes variierte einen Satz des Kunstwissenschaftlers Erwin Panofsky, der im Kino das Äquivalent der Kathedralen erkannte. Und eine Kino-Essayistik haben wir ja unterdessen.

Alfred Pfabigan: „Nimm 3, zahl 2. Wie geil ist Geiz?“ 192 Seiten, Sonderzahl Verlag, Wien 2004, 16 Euro