Die Gier und das Grauen

Im Alter von 80 Jahren starb am Samstag einer der besten Schauspieler unserer Zeit. Dabei hat Marlon Brando seinen Beruf nie wirklich geliebt. Nachruf auf einen widersprüchlichen Wilden

Nie ein aufrichtiger Held, immer ein Getriebener, dem Scheitern nah Das Gesicht des „Paten“ bleibt lange verborgen, wie ein gutes Geheimnis

VON CRISTINA NORD

Es wäre eine Idealbesetzung gewesen: Marlon Brando in der Rolle eines alt gewordenen südamerikanischen Diktators. So viel Macht hat er angehäuft, dass er nicht mehr sieht, wie diese Macht erodiert. So dicht gewoben hat er das Netz aus Willkür und Gewalt, in das er sich selbst eingesponnen hat. Und so gewaltig seine Statur, „dass er niemals das Haus verließ, weil er nicht durch die Tür passte“. Die Rolle des Despoten, den Gabriel García Márquez in den Mittelpunkt seines Romans „Der Herbst des Patriarchen“ stellt, hätte fortgeführt, womit Brando in den 70er-Jahren Triumphe feierte: die Verkörperung von mächtigen, dem Untergang geweihten Männern. 1997 begegneten sich der kolumbianische Schriftsteller und der Schauspieler. Sean Penn sollte die Regie übernehmen. Eine chilenische Zeitung meldete, dass „Der Herbst des Patriarchen“ 2000 in die Kinos kommen werde. Doch die Romanverfilmung kam über das Projektstadium nie hinaus. Am Donnerstag erlag Marlon Brando, einer der wichtigsten Schauspieler des 20. Jahrhunderts, 80-jährig in Los Angeles einem Lungenversagen.

Er war wild und ungezügelt, bevor James Dean den Rebellen ohne Grund geben sollte. Er befreite seinen Körper von Anstand und Etikette, bevor die 60er-Jahre und ihre Filme es taten; er machte Schluss mit der makellosen Männlichkeit der ungebrochenen Helden, um einen zwar virilen, aber zugleich beschädigten Männertypus einzuführen. Und er verpflichtete sich keinem Studio: Er war einer der ersten unabhängigen Schauspieler, da er keinen ihn auf lange Jahre bindenden Vertrag unterschrieb und stattdessen mal für die Fox, mal für Metro-Goldwyn-Mayer, mal für die Columbia und mal in einer Low-Budget-Produktion arbeitete. Nie war er ein geradliniger Held oder ein aufrichtiger Good Guy, immer ein Getriebener, von inneren Konflikten zerrissen, dem Scheitern nah.

Wie in Elia Kazans „Die Faust im Nacken“ (1954). Da gab er Terry Malloy, einen Gelegenheitsarbeiter in den Docks von Hoboken, New Jersey. Früher war er Profiboxer, und von Beginn des Films an ist sein Gesicht so verquollen, dass man meinen könnte, der seine Karriere beendende Kampf habe eben erst stattgefunden. Wie Brandos einprägsame Gesichtszüge, seine wohlkonturierten Lippen und seine markante Nase mit den angeschwollenen, schräg die Pupillen durchkreuzenden Lidern kontrastieren, das hat eine besondere Wirkung: als spiegelte sich in diesem Gesicht die ganze moralische Ambivalenz des Films.

Zwar haben viele „Die Faust im Nacken“ als Kazans Freispruch in eigener Sache begriffen, als einen Film, der die Denunziation vor dem House Un-American Activities Committee (Huac) in eine noble Tat umdichten sollte. Auch Brando notierte rückblickend: „Damals war mir nicht klar, dass ‚Die Faust im Nacken‘ von Gadg [Kazan] und Budd Schulberg [dem Drehbuchautor] in Wahrheit rein argumentativ eingesetzt wurde: Sie machten den Film, um zu rechtfertigen, dass sie ihre Freunde verraten hatten. Als Terry Malloy versinnbildlichte ich offensichtlich den tapferen, beherzten Mann, der dem Bösen trotzt.“ Aber „Die Faust im Nacken“ entzieht sich dieser Eindeutigkeit: unter anderem wegen Brandos Gesicht und seines Strauchelns am Ende des Films. Die Dramaturgie mag ihn hier als positiven Helden sehen, doch wie er dem langsam sich schließenden Fabriktor entgegentaumelt, der Dunkelheit entgegen, hinter sich die anderen Arbeiter wie eine Herde Schafe, das spricht eine andere Sprache als die des Happy End.

„Die Faust im Nacken“ kam 1954 in die Kinos, und Brando, damals 30 Jahre alt, war auf dem Höhepunkt seiner ersten Karriere. Für die Darstellung des Terry Malloy erhielt er einen Oscar. Im Vorjahr hatte er den Anführer der Motorradgang in László Benedeks „Der Wilde“ gespielt; Andy Warhol sollte das Motiv des über den Lenker gebeugten Brando knapp anderthalb Jahrzehnte später reproduzieren, sodass es heute so bekannt ist wie die Drucke Marilyn Monroes oder Liz Taylors. Brando hatte für Kazans „Viva Zapata!“ (1952) den mexikanischen Revolutionär Emiliano Zapata verkörpert, den querschnittgelähmten Kriegsheimkehrer Ken in Fred Zinnemanns „Die Männer“ (1950) und Julius Caesar in Joseph L. Mankiewicz’ gleichnamigem Film (1953).

Vor allem aber war er Stanley Kowalski in Kazans Tennessee-Williams-Verfilmung „Endstation Sehnsucht“ (1951): Im zerrissenen T-Shirt, schwitzend und schmutzig, bot sich sein muskulöser Oberkörper weiblichen und männlichen Blicken und Begierden an. Kazan und Brando hatten schon für die Broadway-Inszenierung des Stücks zusammengearbeitet. Ende der 40er-, Anfang der 50er-Jahre bildeten die beiden – bei allem, was der Schauspieler gegen die politischen Beweggründe des Regisseurs vorbrachte – eine ausgesprochen produktive Allianz.

Brando wurde 1924 in Omaha, Nebraska, geboren. Eine leichte Jugend hatte er nicht. Die Mutter trank, der Vater, ein Vertreter, war kaum zu Hause, und wenn, dann trank auch er. Brando flog von der Highschool und später von der Shattuck Military Academy in Minnesota, er lebte kurz mit der Mutter in Kalifornien und nach der Versöhnung der Eltern auf einer Farm in der Nähe von Chicago. Mit 19 ging er nach New York. Das Schauspiel lernte er im Dramatic Workshop der New School for Social Research, zunächst bei Erwin Piscator, später bei Stella Adler, die zwar wie Lee Strasberg auch in Paris bei Konstantin Stanislawski studiert hatte, der Strasberg’schen Form des Method Acting aber ihre eigene entgegenhielt: Statt die Darstellung aus der eigenen affektiven Erfahrung abzuleiten, sollte sich der Schauspieler auf die genaue Beobachtung und seine Vorstellungsgabe verlassen, um einer Figur Gestalt zu geben.

In sein Privatleben brachte Brando keine Ordnung: Er führte drei Ehen, hatte unzählige Geliebte, Männer wie Frauen, mindestens elf Kinder, einen Wohnsitz auf dem Südseeatoll Tetiaroa, den er nie wieder aufsuchte, seit sich dort seine Tochter Cheyenne das Leben nahm. Zeitlebens verspürte er ein großes Unbehagen am Schauspielerberuf. Er hielt Distanz zu Hollywood. Weil er zu impulsiv war, um sich an jeden unterzeichneten Vertrag zu halten, wurden immer wieder Ersatzforderungen gegen ihn erhoben.

So hatte er die Hauptrolle in Michael Curtiz’ Film „Sinuhe der Ägypter“ zugesagt. Da er schon vom ersten Drehtag an nicht mehr mitspielte, wurde er zu Schadenersatzzahlungen verdonnert und dazu, den Napoleon in Henry Kosters „Désirée“ zu geben. Er verkalkulierte sich mit den Produktionen seiner eigenen Firma Pennebaker Inc. und war immer wieder pleite. Deshalb musste er ungeliebte Rollen annehmen. In den 60er-Jahren begann sein Stern zu sinken.

Es war an Francis Ford Coppola, Marlon Brando Anfang der 70er-Jahre zurück auf die Leinwand zu holen. Brando gab Don Vito Corleone, den Machtmenschen, in „Der Pate“ und erhielt dafür seinen zweiten Oscar, den er nicht annahm. Er war kaum 50, und doch machte die Maske einen alten Mann aus ihm.

„Es ist ein Bulldoggengesicht“, notierte Brando. Hamsterbacken, nach unten weisende Mundwinkel; eine Unzahl feiner horizontaler Falten staffelte die Wangen. In der ersten Einstellung filmt ihn Coppola im Dunkeln, von hinten, so, dass man seine Hand auf dem Schreibtisch sieht und den Bittsteller vor ihm. Das Gesicht bleibt lange verborgen, wie ein gut zu hütendes Geheimnis, die Stimme kommt aus den Tiefen des massigen Körpers, ein Krächzen fast und fast schon manieriert.

Wer das gesehen hat, weiß, dass Brando mehr als ein herkömmlicher Schauspieler war. Er gab dem Filmbild Leiblichkeit. Bernardo Bertolucci wusste sich dies in „Der letzte Tango in Paris“ (1972) zunutze zu machen, dem damals so skandalumflorten Film. Noch heute entfaltet die Geschichte von dem Witwer und der jungen Frau, die sich bei der Wohnungssuche in einem unmöblierten Pariser Apartment begegnen und übereinander herfallen wie kurzatmige Raubtiere, ihre ganze Wirkung, und das ist erstaunlich, insofern nichts so rasch altert wie die Körperrebellionen früherer Generationen. In „Der letzte Tango“ aber ist der Sex nicht verstaubt. Brandos Mischung aus roher Körperlichkeit und Verzweiflung, diese gierige Melancholie, verliert nichts von ihrer Faszination.

Ein paar Jahre später wiederholten Brando und Coppola das Kunststück des „Paten“. In „Apocalypse Now“, der freien Adaption von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, ist Brando Colonel Kurtz. Vor dem Dreh hätte er abnehmen sollen, er tat es nicht, und Coppola schrieb ihm zuliebe das Drehbuch um. Man sieht ihn lange Zeit gar nicht. Wie ein Phantom begleitet seine Fotografie die Vietnamreise von Hauptmann Willard (Martin Sheen). Als er endlich auftritt, in seiner aus Leichen aufgetürmten Dschungelkolonie, sieht man ihn im Halbdunkel, den kahlen Schädel entweder in dem goldenen Licht, das für seine Filme in den 70ern so prägend war, oder im Schatten. Wenn er dann „the horror, the horror“ sagt, hat er den ganzen Wahnwitz dieses Films – und den des Vietnamkriegs – ausgesprochen.

Marlon Brando ist oft gestorben auf der Leinwand, in „Der Pate“ im Tomatenbeet, erschossen von Maria Schneider in „Der letzte Tango in Paris“. In „Apocalypse Now“ enthauptet ihn Martin Sheen, während in der Parallelmontage ein Stier getötet wird. Es fällt ein alter Mann, eine entfesselte Macht, ein böses Ende. „Ich glaube“, notierte García Márquez, als er „Der Herbst des Patriarchen“ verfilmen wollte, „dass die Einsamkeit der Macht und die des Ruhms sich sehr ähneln.“