„Es geht nicht um die Wahrheit“

Anlässlich seiner Werkschau bei Barbara Wien in Berlin äußert sich der Konzeptkünstler Peter Piller, Ars-Viva-Preisträger 2004, über Situationen, die ohne das Zeitungsfoto gar keinen Sinn machen würden, etwa Bänder durchschneiden bei Eröffnungen

INTERVIEW MARTIN DROSCHKE

taz: Andere sammeln Briefmarken. Sie sammeln Fotografien aus Provinzzeitungen, deren Qualität oft am Rand des Erbärmlichen liegt und deren Motive bar jeder Aussage sind, wenn man die Geschichte dahinter nicht kennt. Sie sind Künstler. Da muss also mehr dahinter stecken als Lust am Trash und am Kuriosen.

Peter Piller: Mein Sammeln ist kein Selbstzweck. Es geht mir nicht darum, mit einer Menge zu beeindrucken. Mein Archiv ist eine Sammlung, keine Anhäufung. Das Kunstwerk ist außerdem nicht, was ich da so sammle, sondern was ich daraus mache. Vergrößerte Ausdrucke, Herauslösung aus dem Kontext, Wegnahme der Bildunterschriften. Außerdem gebe ich den Bildgruppen neue Titel, wie zum Beispiel „Regionales Leuchten“.

„Regionales Leuchten“ ist das Buch der mythischen Lichterscheinungen. Formales Thema: verunglückte Blitzlichtaufnahmen. Ergebnis: Die abgebildeten Feuerwehrmänner und Polizisten erscheinen wie Überwesen, erinnern an katholische Heilige.

Um das an dieser Stelle ganz deutlich zu sagen: Es geht darin nicht darum, das Landleben lächerlich zu machen! Es ist auch keine Kritik an amateurhafter Fotografie, sondern eher eine Hommage daran. Eine meiner neuesten Serien heißt: „Vorzüge der Absichtslosigkeit“.

Sie bearbeiten ausschließlich das formale Erscheinungsbild der Fotos, greifen aber nie durch Übermalen oder Retusche in die Motive ein?

Richtig. Alles ist schon da, fertig. Man muss es sehen können, das ist die Leistung … aufmerksam sein und auch ertragen, erst mal nicht zu wissen, was man damit überhaupt anfangen soll. Das hält doch in unserer zweckgerichteten Verwertungsgesellschaft kaum mehr einer aus – und die Spielräume werden immer enger.

Wie viele Zeitungen haben Sie abonniert?

Keine Abos. Ich konnte die Bilder während meiner Lohnarbeit für eine Mediaagentur sammeln in den letzten sieben Jahren, zirka 100 Zeitungen pro Tag, bundesweit.

Wie viele Bilder finden jede Woche Aufnahme in Ihr Archiv? Und was unterscheidet ein für Peter Piller bewahrenswertes Pressebild von einer Aufnahme, die im Altpapier landet?

Es gibt keinen Vorsatz vor dem Sammeln. Das ist Intuition. Oft weiß ich erst gar nicht, was ich interessant finde, nur dass da was ist. Prinzipiell kann alles ins Archiv gelangen und genauso leicht wieder daraus verschwinden. Das Archiv ist nicht das Kunstwerk! Es wird nicht ausgestellt. Es ist Durchgangsstation und bleibt unsichtbar, meine Sache.

Ihre Kunst besteht also darin, die Bilder durch Kombination mit anderen Bildern in einen neuen Kontext zu stellen und sie mit einer entsprechend neuen Aussage zu versehen, ohne dass dafür die ursprünglichen Motive verändert werden müssen?

Ja, richtig. Und diese Arbeitsweise habe ich nicht erfunden. Trotzdem muss ich mich oft rechtfertigen und werde gefragt, warum ich keine eigenen Bilder mache. Ich antworte dann, dass die fremden Bilder meine eigenen werden. Außerdem fotografiere ich sehr wohl auch selbst und zeige diese Bilder auch.

Kann man Sie als Ethnologen bezeichnen, der deutschen Ritualen der Gegenwart auf der Spur ist?

Nein, eher als Soziologen. Ritualen – unsichtbaren – bin ich schon auf der Spur. Es gibt viele Situationen, die ohne das Zeitungsfoto so gar keinen Sinn machen würden, etwa Bänder durchschneiden bei Eröffnungen. Die Fotografie stellt die Situation her.

Wollen Sie damit sagen: Gäbe es die Presse nicht, würden Bürgermeister nicht jeden neuen gemeindeeigenen Radwegmeter feierlich mit Blaskapelle und Rede einweihen? Denn im Grunde machen Bürgermeister das nur, um via Foto eine breite Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen?

Sehen Sie sich den Bundeskanzler an, wie er Banden überspringt, Fußbälle auf der Nase balanciert und ganze Äpfel in den Mund nimmt.

Konzentrieren Sie sich deshalb auf Kleinstädte und ländliche Regionen, weil dort im Gegensatz zu den Metropolen Multikulturalität ein Fremdwort geblieben ist und der Deutsche noch weitgehend unter seinesgleichen lebt?

Multikultifragen berührt das wenig. Eher die Nähe zur Amateurfotografie ist bedeutsam, etwas wird „aus Versehen“ abgebildet, es gibt bedeutungstragende „Fehler“ in den Aufnahmen. Agenturbilder überregionaler Zeitungen sind gleichgeschaltet, hohl im Aussagewert und standardisiert, ein Grauen ist das!

Das heißt: Die Provinzpressefotografie ist ehrlicher, kommt dem abstrakten Wert Wahrheit näher, weil die Journalisten das Falsche an der Inszenierung des Bürgermeisters – um beim eben durchgespielten Beispiel zu bleiben – nicht mit handwerklichen Tricks übertünchen können?

Ich will da nicht missverstanden werden, mir geht es nicht um die Wahrheit. Mein Archiv ist nicht objektiv.

In Großstädten wie Köln und Berlin sind Teile Ihres Archivs immer wieder in Ausstellungen zu sehen. Woran liegt es, dass Peter Pillers Kunst nicht auch in der Provinz präsent ist?

Ich stelle auch in der Provinz aus, aber diese Angebote sind eben weniger attraktiv, und ich muss auswählen. Ich bin auch müde davon, dass immer kein oder wenig Geld für den Künstler eingeplant ist, und mache eben nicht mehr alles für lau. Städtische Angebote sind oft besser organisiert, und es gibt ein Budget. Aber es stimmt schon, worauf Sie hinauswollen: Für den Landbewohner haben die Zeitungsaufnahmen nichts Fremdes, und der Widerstand, das als Kunst zu betrachten, ist natürlich damit weitaus größer. Künstler stehen meist unter dem Rechtfertigungsdruck, nachweisen zu müssen, dass sie keine Trickbetrüger sind. Wäre schön, wenn das auch für Zahnärzte so wäre.

In Ihren Büchern, den „Sammelgebieten“, haben weder die Menschen noch ihre Wohnorte eine Identität. Kann Heimat, ein anderer Begriff für Provinz, also überall sein, ist Heimat etwas Beliebiges, Austauschbares und damit nichts von Wert?

Schwierige Frage. Heimat würde ich jedenfalls nicht mit Provinz gleichsetzen. Die Auflösung von Identität und Orten in meinen Bildern stellt bestenfalls eine kollektive nationale Heimat her. Nun, die ist nun mal recht unwirtlich zum Teil. Da gibt es latent Aggressives darin. Ich bilde ja nicht objektiv Deutschland ab, so wie es manchmal missverstanden wird, sondern bin im Gegenteil nur an meinen Privatforschungen interessiert, die dann objektivierend präsentiert werden. Möge jeder seine eigenen Interessen als allgemein verbindlich erklären!

Sie leben in Hamburg. Würde es Sie reizen, in die tiefste Provinz umzuziehen, dorthin, wo Ihre Sammelobjekte zur gelebten und geliebten Alltagskultur gehören?

Ich bin in Idar-Oberstein im abgeschiedensten Hunsrück aufgewachsen und weiß um die Vor-und Nachteile der Provinz. Kann schon sein, dass ich mal umziehe. Ich fürchte mich nicht vor Schützenfesten.

Gehört es zum Kalkül Ihres Konzepts, dass sich der kleine Mann, die politische Provinzprominenz, der Sportverein von den „Sammelgebieten“ gekränkt fühlen muss? „Auto berühren“ zeigt an die hundert Menschen, die stolz auf ihren Wagen sind und ihn deshalb zärtlich streicheln. Aus der unbewussten Geste wird in Ihrem Archivband ein merkwürdiges, in der Provinz offenbar grassierendes Verhalten, das peinlich wirkt.

Klar, etwas Selbstironie muss er schon haben, der kleine Mann. Wenn nicht, kann ich ihm auch nicht helfen. Muss ich nicht ständig umgehen mit Klischees vom Künstler? Mein Leben ist nicht Ausschlafen und Rotwein und Boheme, nur weil ich Künstler bin, sondern meist harte Arbeit, wie für den kleinen Mann auch. Ja, es ist peinlich, am Auto festzukleben. Als die Religiosität aus der Gesellschaft verschwand, hat sie eben ein riesiges Vakuum hinterlassen …

und Sie zeigen mit Ihren Sammelgebieten, womit die Menschen das Vakuum füllen?

Einen kleinen Teil, das meiste bleibt unsichtbar, wie überall. Noch ein Wort zu meiner Sammlung der Tatorthäuser. Da gibt es dieses von den Banken skrupellos erzeugte Glücksversprechen Eigenheim. Und wenn ich nun in einem Band 100 Häuser zeige, in denen verschuldete Väter in ihrer Verzweiflung Amok liefen, das schockierende Drama vom Einzelfall zum Muster wird, hoffe ich, einen kleinen Beitrag zu leisten, den Eigenheimbau, diese Form des Lebenstraums, zu hinterfragen und zu profanisieren.

Ich fasse zusammen: Über das Spiel mit amateurhaften Pressefotos, die aufgrund ihrer Fehlerhaftigkeit dem abstrakten Wert Wahrheit recht nahe kommen, agitieren Sie gegen die Glücksversprechen der Werbewirtschaft, die mit professioneller Perfektion verbreitetet werden. Richtig?

Das wäre ja politische Kunst. Künstler sind übrigens immer schlechte Kunsterklärer. Kunsterklärer ist nicht umsonst ein eigenständiger Beruf, der an Universitäten und nicht an Kunsthochschulen erlernt wird. Vergessen Sie bloß nicht: Ich agitiere auch gegen die Glücksversprechen der Kunst.

Also gegen Glücksversprechungen ganz allgemein? Gegen überzogene Lebenserwartungen, die sich in skrupelloser Selbstdarstellung manifestieren? Gegen das Überkandidelte, das Aufgesetzte? Das übermenschlich Perfekte?

Nein, ich kann doch nicht sagen, alle machen alles falsch und ich weiß, wie es richtig ist. Und beim Agitieren sagt man ja nicht: Achtung, jetzt agitiere ich … Ich kann bloß zeigen, wie was aussieht. Darauf hinweisen, woran das Aussehen erinnert. Darauf hinweisen, dass ein zweiter Blick oft lohnend ist …

… dass ein Blick hinter die Kulissen den persönlichen Horizont erweitert?

Ja, so ungefähr könnte man das sagen.

Bis 28. August 2004, Barbara Wien, Galerie und Buchhandlung, Berlin