Nette Fixer wie wir

In der mehrteiligen Dokumentation „Das Bahnhofsviertel“ begleitet das ZDF Gestalten durch ihr Problemviertel – die sind sich dessen leider bewusst

VON JAN FREITAG

Die Heisenberg’sche Unschärferelation beschreibt die Veränderung eines Untersuchungsergebnisses durch die Untersuchung selbst. Das physikalische Prinzip soziologisch gewendet: Leute, die wissen, dass sie beobachtet werden, verhalten sich grundsätzlich anders, als sie es ohne Beobachtung täten. Trixi, Jupp, Gisela, Moses und andere im Frankfurter Bahnhofsviertel sind dafür der beste Beleg.

Volle sechs Monate hat ein ZDF-Team um die renommierten Autoren Ulli Rothaus und Bodo Witzke auf dem Kiez Menschen und ihre Geschichten begleitet. Das Ergebnis der Mammut-Recherche läuft ab heute um 21.00 Uhr viermal im ZDF, und der Nobelpreisträger Werner Heisenberg dürfte im Grabe zufrieden nicken: Trixi, die quirlige Frau vom Service-Point, Jupp, der kumpelhafte Puffboss, Gisela, die forsche Marktfrau, oder Moses, der substituierte Junkie – sie alle laufen durch ihr Milieu und sind sich der Kamera an ihren Hacken unverkennbar stets bewusst. Um nicht alles von vornherein schlecht zu reden: „Das Bahnhofsviertel“, eine Art Fortsetzung der stadtsoziologischen ZDF-Reportagereihen „Frankfurt Airport“ und „Hamburger Hafen“, ist wirklich interessant.

Die Filme liefern vergleichsweise tiefe Einblicke in kleine Welten, die man sonst kaum zu Gesicht bekommt. Oder zumindest nicht veranschaulicht: Der tägliche Kampf des Fixers, die sonnigeren Seiten des Anschaffens, der Job des Ludenkutschenputzers, die kleinen Dramen im Rotlichtbezirk. Viermal vier Straßen Mikrokosmos auf viermal 45 Minuten Sendezeit.

Wenn Moses, der Langzeitsüchtige beim Zahnarzt, seine frisch gezogenen allerletzten Zähne begutachtet, liegt ein Hauch von Melancholie in der Praxisluft. Und wenn der Muckibuden-gestählte Bodybuilder Jupp die Einsatzbereiche seiner Kampfsportkünste kritisch beleuchtet, möchte man ihn kennen lernen – den stiernackigen Halbweltler, dem man sonst eigentlich eher aus dem Weg gehen möchte.

Doch es wirkt eben alles nur halb authentisch, nie voll aus dem Leben gegriffen, immer zu nett, bieder, brav. Von wegen „Ort der Extreme“, wie das Zweite verheißt. „Das ZDF ist kein Randale-Sender“, beteuert Ulli Rothaus, „wir machen keine Frontalaufnahmen von jemandem, der es nicht will.“ Doch auch das Gegenteil kann für gute Dokus schädlich sein: wenn der Jemand es zu sehr will. Wenn Eroscenter-Besitzer Jupp sich über einen Taxidienst lustig macht, der Probleme mit vier halben Hähnchen hat. Wenn Gisela über die süchtigen Verlierertypen ihrer Standumgebung sinniert oder Trixi einen Bombenalarm so locker wie möglich zu managen versucht. Dann wird das Objektiv – gewollt oder ungewollt – zum Skript.

Rothaus kann noch so oft betonen, dass nichts inszeniert wurde. Das musste es gar nicht. Jupp, sagt der Autor, war über die Chance, sein Gewerbe mal so darzustellen, wie er es möchte, richtig dankbar. Geld habe keiner der Protagonisten erhalten. „Es war eben eine Win-win-Geschichte“, erklärt Rothaus im eigenen Szenejargon. Und „Researcherin“ Anne Kauth hatte dank adrettem Aussehen und popmodernem Charme ohnehin kaum Zugangsprobleme.

So ist „Das Bahnhofsviertel“ eine Alltagsdokumentation mehr, der die Abgrenzung zur massentauglicheren Dokusoap nicht völlig gelingt. Weitaus besser gemacht als die unzähligen sonstigen Polizeibegleitmaßnahmen bei der privaten Senderkonkurrenz, oft spannend, manchmal lustig, gelegentlich schockierend und nicht nur für heimatverbundene Hessen ein Muss. Aber doch zu häufig frei vom Tiefgang, von der Unmittelbarkeit vergleichbarer BBC-Produktionen. Und selbst die haben schließlich ihre liebe Not mit Heisenbergs Unschärferelation.

„Das Bahnhofsviertel“, heute, 7., 13. und 14. Juli, 21.00 Uhr, ZDF