Bewegung macht süchtig

Überwesen mit Unterbewusstsein: Hauptfigur und Kamera in Sam Raimis „Spider-Man 2“ schwingen so agil durch New York, dass sich innen und außen, Reales und Imaginäres rasant verschränken

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Wie im wahren Leben gibt es auch im Kino ein „wir“ und ein „sie“. Sie, die Filmindustrie, wir die Zuschauer. Es handelt sich um eine Art Dealer-Süchtigen-Verhältnis. Deshalb ist es gar nicht schön, wenn der Dealer seine Macht ausspielt, indem er den Süchtigen an seine Abhängigkeit erinnert und etwas sagt wie: Mehr kriegst du im Moment nicht, der Rest kommt später. So ziemlich das Einzige, was das Sehvergnügen an „Spider-Man 2“ beeinträchtigt, ist der aufdringliche Hinweis darauf, dass es auch noch einen dritten Teil geben wird. Als hätten wir das nicht schon vorher gewusst.

Aber Sequels werden nicht gemacht, weil es der Plot erfordert, sondern weil „sie“ damit Geld verdienen. Im Fall von „Spider-Man 1“ war das so überraschend viel, dass ganz neue Rekordmarken erfunden werden mussten: die besten ersten fünf Tage, das schnellste Erreichen des 300-Millionen-Dollar-Umsatzes, das erfolgreichste dritte Wochenende und was dergleichen Margen mehr sind. Wie man hört, ist der zweite „Spider-Man“ gerade dabei, den ersten noch zu übertreffen. Meistens dienen die Rekordmeldungen vor allem dazu, die Nachrichtenzeilen mit positiven Meldungen zu füllen, bevor die Kritik etwas zum Mäkeln findet. Das Erstaunliche an „Spider-Man 2“ ist, dass er so etwas gar nicht nötig hat.

Wir Süchtigen fühlen uns zunächst aufs Beste bedient: Alfred Molina als zum „Doc Ock“ mutierter Dr. Otto Octavius gibt eine wunderbar schmierige Variation des „mad scientist“ und erinnert dabei in unheimlicher Weise an die fein gesetzte Mischung aus Jovialität und Bösartigkeit, die die Spezialität seines Namensvetters Alfred Edel war. Mit wohliger Brutalität fährt ihm die Stahl-Krake ins Rückenmark. Fortan bebt die Erde, wo immer dieses Technotier sich hinwendet. Schade nur, dass er im Gesetz der Serie wohl keine Überlebenschancen hat.

Sehr viel eindringlicher noch als im ersten Teil spielt Kirsten Dunst die unglückliche Schönheit: Ihre Mary Jane scheint alles zu haben, Erfolg im Beruf und einen reichen Verehrer, aber erst die schwelende Verletzung durch die Zurückweisung Peter Parkers verleiht ihr einen erotisch verhangenen, Tragödinnen-haften Charme. Auch bei Harry Osborn (James Franco), dem Sohn des Bösewichts aus dem ersten Teil, ist es das brodelnde Leiden, das ihn attraktiv macht; er scheint vom Mangelgefühl beherrscht, dem Erbe seines Vaters nicht gewachsen zu sein, ohne zu wissen, dass diese Unfähigkeit seine eigentliche Größe ist. Und schließlich gibt es da noch Peter Parker alias Spider-Man alias Tobey Maguire, der bleich und überfordert durch diesen Film huscht, immer atemlos und meist trüber Stimmung. Zusammen ergeben sie das wunderbare Triptychon einer depressiven und merkwürdig gehetzten Jugend, worin doch tatsächlich nichts weniger als ein gewisses aktuelles Lebensgefühl zum Ausdruck kommt. Das hat „Spider-Man“ den meisten Marvel-Comic-Verfilmungen voraus.

Mit seiner zum Markenzeichen gewordenen Kamera-Akrobatik schafft Regisseur Sam Raimi für diese Figuren einen filmischen Raum, in dem Außen und Innen, das Reale und das Imaginäre sich rasant verschränken. Eben noch steht die Kamera vor dem verspiegelten Fenster eines Cafés, im nächsten Atemzug schon nimmt sie drinnen Platz, ein übergangsloses Gleiten aus den gefühlten Temperaturen der Außenwelt hinein in die Phantasmagorie-Räume des Inneren.

New York zeigt sich in diesem Film als jenes traumatisierte Stadt-Imago, das unschwer als Post-9/11 erkennbar ist: kein Hort der Liberalität mehr, sondern einer der sich verschärfenden Restriktionen, von „corporate America“ so weit eingenommen, dass noch der kleinste Pizza-Liefer-Service der erbarmungslosen Konkurrenz des globalisierten Kapitalismus ausgesetzt ist.

Der eigentlich süchtig Machende an „Spider-Man“ ist die Bewegung: die der Kamera und die der Hauptperson. Wenn Spider-Man sich wie Tarzan durch den Großstadtdschungel schwingt, bricht jede lähmende Depression auf; allein schon der Anblick solch physikalischer Überlegenheit und spielerischen Kontrolle verheißt Befreiung. Und ausgerechnet diesem Überwesen spielt das Unterbewusstsein hier auf einmal einen Streich, die Fäden versagen ihren Dienst, und unsanft landet Peter Parker in der Pfütze. Mehr zu verraten, wäre unfair gegenüber den Rauschbedürftigen.

Vielleicht noch so viel: Die stärkste Szene des Films ist nicht das Actionfinale, sondern das seltsame Coming-out, das Peter Parker erfährt: Irgendwann, auch da mag ihm das Unterbewusstsein einen Streich spielen, vergisst er nämlich bei einer spektakulären Rettungsaktion seine Kopfmaske. Nach vollbrachter Tat bricht er zusammen; zärtlich tragen ihn die Geretteten auf Händen an einen sicheren Ort und beugen sich über ihn, behutsam und erstaunt: „He's just a kid.“ Geoutet wird an dieser Stelle weniger Peter Parker als vielmehr der Stoff: die pubertäre Allmachtsfantasie, in Verkleidung die Welt zu retten, ist nur eine Maske für die unstillbare Sehnsucht, auch in der Schwäche geliebt zu werden.

„Spider-Man 2“. Regie: Sam Raimi. Mit Tobey Maguire, Kirsten Dunst u. a. USA 2004, 120 Min.