Die Dame ist fürs Feuer

Gerhard Schröder ist nicht Lohengrin – aber Schwan ist Schwan. Ein Vorschlag zur Güte und für eine glaubwürdige Alternative

VON KLAUS HARPPRECHT

Erinnert sich Gerhard Schröder manchmal in seinem Junggesellengelass hoch oben im Betongebirge an der Spree, vielleicht im Gute-Nacht-Gespräch mit Doris, an den fröhlichen Vorsatz am Beginn seiner Kanzlerschaft, dass acht Jahre in dem schweren Amt genug sein würden? Vermutlich hält er eine neue Beschwörung des vagen Versprechens für nicht allzu dringlich. Darin täuscht er sich nicht. Keine Umfrage und keine Abstimmung, ob in den Gemeinden oder in den Ländern, deutet derzeit auch nur die Chance einer Wiederwahl an.

Dennoch, Schröder könnte sich, wenn er denn will, mit zusammengebissenen Zähnen bis zum Ende der Legislaturperiode behaupten: ein langer Opfergang für das Reformprogramm, in dem er seinen geschichtlichen Auftrag erkennt. Niemand kann ihn beiseite drängen, selbst wenn Nordrhein-Westfalen, die bisher kaum je angefochtene Heimat der SPD, im kommenden Jahr verloren gehen sollte. Wer will ihn stürzen? Angela Merkel im trauten Verein mit Guido Westerwelle? Die beiden murmeln zwar dann und wann so etwas wie „Rücktritt“, doch in Wahrheit segnen sie jeden Tag, der sie nicht mit der Verantwortung für die schmerzhaften Veränderungen belastet, die sie selber lauthals fordern. Sie lassen den Kanzler nicht scheitern (was via Bundesrat leicht zu bewerkstelligen wäre), solange er die Kastanien aus dem Feuer holt. Noch hat der Mohr seine Schuldigkeit nicht getan, noch kann er nicht gehen.

Wer sonst sollte ihn dazu zwingen, vorzeitig den Strohhut zu nehmen (wie man in alten Zeiten sagte)? Die eigene Fraktion? Um Neuwahlen herauszufordern? Selbst die verbohrtesten Zeloten auf dem Flügel, den man links, aber auch reaktionär nennen könnte, werden es sich zweimal überlegen, ehe sie die Partei zum politischen Selbstmord auffordern und sich selbst vor der Zeit aus dem schönen Berliner Mandat katapultieren. Denn dies ist gewiss: Die SPD würde wenigstens die Hälfte ihrer Sitze verlieren – die der Linken allemal. Und wer sollte Schröder als Kanzler ersetzen? Der knarzende Müntefering ist viel zu gescheit, um nicht zu wissen, dass ihn der Gott der Sauerländer mit vielen Talenten gesegnet hat, mit dem einen jedoch nicht: Charisma – für ihn das fremdeste aller fremden Worte. Wolfgang Clement? Sein Geschick ist mit der Agenda 2010 so unlösbar verknüpft wie das Gerhard Schröders. Überdies hat es die blitzgescheite und so überaus praktisch denkende Frau Karin versäumt, ihm des Nachts eine Gesichtsmaske zu verpassen, die seine Mund- und Augenwinkel, womöglich auch die Brauen, nach oben, ins Optimistische dressieren würde – wie einst Kaiser Wilhelms viel gerühmte Schnurrbartbinde, die (wenn sich der Autor nicht irrt) den wegweisenden Markennamen „Aufwärts“ oder „Siegwärts“ trug. Clement erfüllt das Bild des Hoffnungsträgers nicht länger. Das spricht nicht gegen ihn. Indes, die Gewissenhaftigkeit, die ihn auszeichnet, eignet sich derzeit kaum zur populären Ausbeutung.

Aber die SPD braucht eine glaubwürdige Alternative. Sie hat eine (und weiß es nur nicht). Gerhard Schröder sollte sich des Genieblitzes entsinnen (gleichviel ob seines eigenen oder dessen eines klugen Beraters), der ihm eingab, Gesine Schwan die Kandidatur fürs Amt des Bundespräsidenten anzutragen. Die Professorin hat sich in den wenigen Wochen, die ihr blieben, um den Deutschen ein Begriff zu werden, als eine politische Begabung ersten Ranges erwiesen. Sie fand, auch in ungewohnter Umgebung, stets die richtigen Worte. Sie sprach klar, sie hat niemals die Grenzen des Taktes verletzt. Sie demonstrierte, dass sie die Kernprobleme der Gesellschaft realistisch ins Auge gefasst hat. Sie strahlt überdies einen geistigen Reichtum aus, der keineswegs einschüchternd wirkt. Sie kann von strahlender Herzlichkeit sein, doch sie lässt auch erkennen, dass sie kühl und scharf zu kalkulieren vermag. Sie mag nicht (noch nicht) über Angela Merkels routinierte Beherrschung der Machtstrategien verfügen (die Kohls Meisterschülerin in den Jahren enger Vertrautheit dem schwarzen Riesen abgeschaut hat, wie es der Lehrherr hernach auf die peinvollste Weise zu spüren bekam). Doch Gesine Schwan hat sich immerhin in jenem akademischen Intrigenzirkus zu behaupten vermocht, von dem Henry Kissinger bemerkte, er sei von solch hinterhältiger Heftigkeit, weil dabei in Wahrheit so wenig auf dem Spiel stehe.

Sie könnte die Bildungsreform, die über unsere Zukunft entscheidet, in den Mittelpunkt eines Regierungsprogramms rücken. Davon versteht sie mehr als alle anderen, und sie geböte über die Fähigkeit, den großen Auftrag aus der farblosen Abstraktion der Experten(un)sprache zu befreien, die bisher alle Diskussionen vernebelt.

Die Außenpolitik gäbe ihr die geringsten Schwierigkeiten auf: Sie kennt sich in Amerika aus, sie ist mit Großbritannien und vor allem mit Frankreich vertraut, sie spricht Englisch wie eine zweite Muttersprache, spricht auch glänzend Französisch – und sie spricht Polnisch. Wer wäre besser befähigt als sie, den Brückenschlag nach Osteuropa zu vollziehen, ohne den die Union der fünfundzwanzig nicht lebensfähig sein wird? Sie hat, was dies angeht, als Präsidentin der deutsch-polnischen Universität in Frankfurt an der Oder kostbare Erfahrungen gesammelt, und sie bewies eine (ironische) Gabe für die produktive Erpressung, als sie ihre Kandidatur fürs Schloss Bellevue dazu nutzte, den Kanzler mit einigem Nachdruck an den alten Plan zu erinnern, die Viadrina-Universität mit (zunächst) fünfzig Millionen Euro um ein französisches Segment zu erweitern, damit die Hochschule den Rang eines wahrhaft europäischen Institutes gewinnt.

Schröder sollte sie – bei einem möglichen Revirement seiner Mann- und Frauschaft – um Gottes Willen nicht auf einen der Kabinettsposten befördern, der frei werden könnte: zum Beispiel das Bildungsministerium. Als Gefangene der schlauen Ministerialbürokraten würde sie sich nur verschleißen. Vielmehr müsste er sie, als Bundesministerin ohne Geschäftsbereich, ins Kanzleramt holen, damit sie die Technik des Regierens in seinem Herzbezirk kennen lernt, und sie könnte in jener Position engere Beziehungen zu den Schlüsselfiguren der Partei und zu den Koalitionspartnern knüpfen. Eine so genannte Hausmacht wird sie sich in der knappen Frist bis zur Wahl nicht aufzubauen vermögen. Umso besser. Mit welchem Seufzer der Erleichterung haben auch die altgedienten Genossen die Außenseiterin willkommen geheißen: ein neues Gesicht, eine überraschende Persönlichkeit, Mittlerin unverbrauchter Energien, eines frischen Geistes und heiteren Mutes. Zum ersten Mal seit Monaten (wenn nicht seit Jahren) hellten sich die vergrämten Mienen der Parteiarbeiter und des sozialdemokratischen Anhangs draußen im Volk wieder auf.

Täusche sich keiner: Sie ist kein gurrendes Täubchen, das hat selbst Willy Brandt zu spüren bekommen. Sie kann Härte zeigen. Die Dame ist fürs Feuer. Sie hat Charme (und verbirgt ihn nicht). Und sie hat das, was alle anderen nicht haben: Charisma – in der Epoche der Mediokratie das Alpha und Omega des politischen Erfolgs.

Sie wäre eine geradezu geniale Antwort auf die spröde Christdemokratin Angela Merkel, die ihr ein gutes Jahrzehnt Bonner und Berliner Erfahrung voraushat (was nicht gering zu schätzen ist) – sonst freilich nichts. In ihrer Partei wird die herbe Ostdame mehr gefürchtet als geliebt. Gesine Schwan aber würde geliebt – und respektiert; vielleicht im Fortschritt der Zeit obendrein auch noch gefürchtet. Es mag wohl sein, dass es ihr im ersten Anlauf nicht gelänge, die derzeit übermächtigen Christdemokraten über den Haufen zu rennen. Dann hätte sie Zeit, ihre Autorität als Chefin der Opposition zu stärken – in der Gewissheit, dass sich die konservative Regierung sehr viel rascher verbrauchte, als es die demoskopischen Kurven dieser Tage vermuten lassen.

Gesine Schwan hängt an ihrer „Viadrina“. Sie bangt um das Werk, das sie geduldig aufgebaut hat. Das spricht für sie. Doch irgendwann muss sie die Präsidentschaft ohnedies in polnische Hände legen. Warum nicht jetzt? Der Weg von Berlin nach Frankfurt an der Oder ist nicht weit. Als Ministerin ohne Portefeuille schnitte sie sich nicht von der Chance ab, aus dem Hintergrund noch eine Weile beratend und ordnend am Geschick ihrer Schule mitzuwirken. Als Regierungschefin oder Führerin der Opposition aber könnte sie – besser als jeder, überzeugender als jede andere – der geistigen und emotionellen Vereinigung der Deutschen (aber auch der West- und Osteuropäer) den Weg bahnen. Ob verdient oder nicht: Sie wäre ein Glücksfall.