Französische Zustände jenseits des Atlantiks

Aus der Welt gefallen: Ein Nachruf auf den Essayisten, Schriftsteller und Literaturmenschen Lothar Baier, der sich in Montreal das Leben nahm

Lothar Baier schien zuletzt ganz ohne Welt gewesen. Er könne nicht mehr schreiben, teilte er seinem deutschen Verlag kurzerhand mit. Antje Kunstmann, die Verlegerin seines letzten Buches, in dem es um „Zeitvernichtung“ ging, hätte gern noch ein weiteres von ihm gedruckt. Doch der Autor bedauerte.

Der Essayist, Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer Lothar Baier lebte zuletzt in Kanada, in Montreal. Er hatte auch dort als der Homme de lettres gewirkt, der er immer gewesen war. Es gibt eine Anthologie von ihm, die der Literatur Quebecs gewidmet ist. Französische Zustände jenseits des Atlantiks. Die Autoren des Bandes scheinen mit ihren Arbeiten etwas nachholen zu wollen, was einst in Europa für Furore gesorgt hatte. Da traf Baier noch einmal auf seine Welt, seine Zeit.

Der 1942 in Karlsruhe geborene Journalist wollte kein Achtundsechziger gewesen sein. Doch die Distanzierung gilt zweifellos den Konjunkturrittern der historisch gewordenen Chiffre. Baiers intellektuelle und politische Physiognomie war älter als der Begriff, mit dem diese historisch verbucht werden sollte. Baier war geprägt durch die Tatsachen, die bis zum Beginn seines Studiums geschaffen waren, und mit Philosophie, Germanistik und Soziologie hatte er sich die Fächer gewählt, die seinen Fragen entsprachen.

Dazu kam ein leidenschaftliches Interesse für Frankreich. Wer die deutsch-französische Freundschaft als die Raison d’être der Bundesrepublik ansieht, konnte bei Lother Baier erleben, dass dies nicht nur ein Programm Adenauers war, sondern bei den jungen Leuten, die zu Ende seiner Amtszeit die Universitäten bezogen, Realität wurde.

Eine Realität freilich, die keine dunklen Seiten überschlug. Der engagierte Intellektuelle wurde in den Sechzigerjahren geprägt durch den Auschwitz-Prozess in Frankfurt, und in den Achtzigerjahren berichtete Baier vom Prozess gegen den Gestapo-Mann Klaus Barbie in Lyon.

Auch solche Realitäten hatten mit der Liebe zu Literatur zu koexistieren, für die in glücklichen Jahrzehnten stets genug Zeit gewesen war. In den Sechzigerjahren unternahm er den Versuch, die Romane Jules Vernes durch eine bearbeitete Ausgabe populär zu machen. In den Neunzigerjahren forschte er den unerwünschten Folgen jener Verhältnisse nach, in denen die Literatur mit einer neuen Freiheit umzugehen hatte, der Freiheit nach dem Ende der osteuropäischen Diktaturen.

Baier zeigte sich da pessimistisch und attackierte die Langweile der Bestsellerproduktion. Seine Hoffnung setzte er auf Autoren aus der Dritten Welt, aus Ländern, in denen es noch ein gefährliches Spannungsverhältnis zwischen der Kollaboration von Regierenden und Regierten auf der einen und engagierter Literatur auf der anderen Seite gibt.

In Deutschland vermisste er die Linke, zu deren Protagonisten er einst gehört hatte. Dass diese Linke mit dem Ende der kommunistischen Herrschaften auch in der Bundesrepublik unsichtbar wurde, irritierte ihn auf das Böseste. Den Verlust überprüfte er in der Analyse neuester Literatur. Das Ende der alten Gegensätze in der Politik hielt der Unkorrumpierbare für das Ende der politisch-literarischen Kultur überhaupt.

Der alte Bloch pflegte gelegentlich die letzten Zeilen des Florian-Geyer-Lied der Bündischen Jugend zu zitieren: „Geschlagen ziehen wir nach Haus, / Unsre Enkel fechten’s besser aus.“ Nach 1989 zog niemand nach Haus: Baier sah, wie die Verlierer bei den Sattelburschen der Sieger Platz nahmen und sich mit ihnen ihre Pfründen teilten. Nicht so der Sartre-Begeisterte von ehedem.Vor wenigen Tagen nahm sich Lothar Baier in Montreal das Leben.

JÜRGEN BUSCHE