Antikapitalismus als Religion

Mit seiner Kunstausstellung „Die Zehn Gebote“ fragt das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden nach der heutigen Relevanz der biblischen Botschaft. Die meisten der ausgestellten Künstler widmen sich moralischen Fragen in neoliberalen Gesellschaften: nicht immer unter Rückgriff auf das Christentum

„Religion is back. Big Time!“, verkündet ein Graffito nahe Ground Zero in Manhattan

VON ROBERT HODONYI

Seit der Kritik an den staatlichen Zuschüssen für die geplante Kunstausstellung zur Geschichte der deutschen „Rote Armee Fraktion“ in den Berliner Kunst-Werken sowie der darauf folgenden Rücknahme des Antrags der Ausstellungsmacher auf Förderung aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds ist es um das Projekt „Mythos RAF“ etwas stiller geworden. Klaus Biesenbach, Leiter der Kunst-Werke und zentrale Figur in der damaligen Auseinandersetzung, hat jetzt vom Deutschen Hygiene-Museum in Dresden den Auftrag angenommen, die erste große Sonderausstellung des Hauses zu kuratieren, nachdem dort im April die Sanierungsmaßnahmen weitgehend abgeschlossen wurden.

„Welche aktuelle Bedeutung haben die Zehn Gebote? Vor welchen ethischen Problemen stehen Menschen heute?“, formuliert Klaus Vogel, Direktor des Hygiene-Museums, das Erkenntnisinteresse. „Ist das jahrtausendealte Regelwerk der Zehn Gebote in einer durch Globalisierung gekennzeichneten Welt noch bindend?“, wird weiter gefragt.

Doch die Rückbesinnung auf traditionelle Werte, die Befragung religiöser Tugenden auf ihre Brauchbarkeit im 21. Jahrhundert, weist nicht auf einen neuen Standort hin, von dem man aus über Religionen sprechen könnte. Vielmehr wird dazu beigetragen, religiöse Markierungen zu stärken und die Tendenz zur Re-Religiosierung in der westlichen Welt fortzuschreiben. Beleg ist das umfassende Begleitprogramm zur Ausstellung mit zahlreichen Veranstaltungen, die in Zusammenarbeit mit der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen, der Evangelischen Kirche Dresden, der Evangelischen und Katholischen Studentengemeinde, dem Diakonischen Werk Sachsen sowie der Evangelischen Akademie Meißen angeboten werden.

Nun versucht die Ausstellung selbst, sich möglichen Antworten auf die Aktualität der Zehn Gebote zu nähern, indem zeitgenössische Gemälde, Foto- und Videoarbeiten, Installationen und Skulpturen präsentiert werden. Diese seien aber, wie Kurator Klaus Biesenbach ausdrücklich betont, „nicht in direkter Auseinandersetzung mit den einzelnen Geboten“ entstanden.

„,Religion is back. Big time!“, verkündet ein Graffito in Downtown-Manhattan in unmittelbarer Nähe des Ground Zero. „Die Ausstellung bietet die Sichtweise von aktueller Kunst auf unsere Welt heute an und befragt dadurch die Zehn Gebote aus einer konsequenten Gegenwartsperspektive“, so Biesenbach. Etwas schwierig erscheint es in diesem Zusammenhang, dass in der Ausstellung auch Arbeiten von Künstlern gezeigt werden, die nichtchristliche Rituale und Traditionen aufgreifen, reflektieren und künstlerisch hinterfragen, diese jedoch unter einem christlichen Oberbegriff eingereiht werden.

Die zehn Räume der Ausstellung entsprechen dabei je einem Gebot. Vorgeführt werden insgesamt 100 Arbeiten von 69 internationalen Künstlern. Bei vielen der ausgestellten Werke hat man allerdings den Eindruck, dass sie ohne den biblischen Kontext und in einem anderen Rahmen weit besser untergebracht wären. Etwa unter einer Überschrift, die die „zehn Gebote“ neoliberaler Globalisierung, den „Washington Consensus“, zum Gegenstand hätte oder die Politik des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank oder der Welthandelsorganisation reflektieren würde. Denn mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Deregulierung, Privatisierung sowie dem weltweiten Abbau von sozialen Sicherungssystemen, wie sie im „Dekalog“ des Washingtoner Konsenses festgehalten sind, setzen sich zahlreiche Arbeiten in einem ganz unreligiösen Sinn – dafür aber vehement kapitalismuskritisch – auseinander.

So finden sich zwei Fotoarbeiten von Andreas Gursky, „99 Cent II, Diptychon“ (2001) und „Untitled XIII (Mexico)“ (2002), im Raum des 10. Gebotes gegenübergestellt („Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat“). „99 Cent II“ ist die panoramahafte Abbildung der umfassenden Produktpalette eines durchschnittlichen Supermarktes nach westlichen Maßstäben. „Untitled XIII“ dagegen markiert die Kehrseite der verführerischen Warenwelt: das Foto einer unendlich wirkenden Müllhalde im Süden von Mexiko-Stadt, wo im Hintergrund schon die Slums erscheinen, die übergangslos in die apokalyptisch wirkende Deponie übergehen.

Mit den Mechanismen globaler finanzieller Transaktionen beschäftigt sich die Arbeit „Change/Exchange“ (1998) von Emily Jacir im Raum des 8. Gebotes („Du sollst nicht stehlen“). Die Fotos und Belege dokumentieren, wie durch mehrmaliges Umtauschen von 100 US-Dollar in französische Francs und zurück allmählich der gesamte Betrag verloren geht. Emil Steinbrecher setzt im Raum des 4. Gebots („Du sollst den Feiertag heiligen“) seine in Parks, auf Bänken und Ruhezonen schlafenden Menschen aus der Serie „Gras“ (1993–2002) als Kontrapunkt zu den sich immer mehr beschleunigenden globalen Handels-, Finanz-, und Börsenaktivitäten.

Die Übertragung und Transformation von religiösen Werten in aufgeklärte, säkularisierte Gesellschaften vermittelt die Ausstellung eher beiläufig, da im Vordergrund vielmehr allgemeine ethische und moralische Fragestellungen stehen. Schon Walter Benjamin konstatierte in seinem berühmten Fragment „Kapitalismus als Religion“: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d. h., der Kapitalismus dient essenziell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.“

In diesem Sinne lassen sich etwa die Arbeiten von der Sylvie Fleurs und Olaf Nicolai im ersten Raum lesen („Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“).

Während Sylvie Fleurs „Know Your Nuts“ (2004) monumentalisierte Cover von Männer-Fitness-Magazinen herstellt, setzt sich Olaf Nicolai in seinem Selbstporträt „A Portrait of the Artist as a Weeping Narcissus“ (2000) in Szene. Beide Arbeiten spielen mit popkulturellen Leitbildern wie Schönheit, Jugendlichkeit, Fitness oder Berühmtheit und beschreiben die Antithese zum ersten Gebot.

In der narzisstischen Geste fallen bei Olaf Nicolai Betender und Angebeteter, Gott und Gläubiger zusammen. „Pop- und E-Kultur sind nicht zuletzt Leistungsschauen jener Heerscharen von verlorenen Seelen, die den Sturz des ersten Gebotes als ihre Geburtsstunde begehen dürfen“, schreibt Ulf Poschardt im Katalog. Gleiches dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit für einen Großteil der Kunstwerke in der Ausstellung gelten.

„Die Zehn Gebote“ im Deutschen Hygiene-Museum, Dresden. Bis 5. Dezember, Katalog 24,80 €