„Das Gesetz ist eine Verschlimmbesserung“

Mit dem Tagesbetreuungsgesetz will die Regierung mehr Krippenplätze für Kleinkinder schaffen. Doch stattdessen wird abgebaut, sagt Ilse Wehrmann, Leiterin der Bundesvereinigung evangelischer Kindertageseinrichtungen

taz: Im gestern verabschiedeten Tagesbetreuungsgesetz ist – entgegen der Koalitionsvereinbarung – kein Rechtsanspruch auf einen Platz für Kleinkinder vorgesehen. Wird das Gesetz trotzdem etwas nützen?

Ilse Wehrmann: Kaum. Auch wenn nun Geld freigemacht wird, kann der Bund nicht beeinflussen, wo es hinfließt. Es wird womöglich in den Kommunen im Straßenbau oder sonstwo versickern.

Deshalb steht im Gesetz, wann jemandem ein Betreuungsplatz zusteht: Wenn beide Eltern arbeiten oder Arbeit suchen. Nützt das etwas?

Das ist kein Rechtsanspruch. Die Kommunen machen nur, wozu sie gezwungen sind. Diese Formulierung ist eher eine Verschlimmbesserung: Wenn die Ganztagsbetreuung an Berufstätigkeit geknüpft wird, dann hat man das Gegenteil von dem erreicht, was man wollte: Wir müssen in Bremen in sozialen Brennpunkten Ganztagsplätze abbauen, weil es heißt: Die Mutter sitzt doch zu Hause. Dabei ist die Mutter vielleicht durch lange Arbeitslosigkeit psychisch belastet. Aber das Kind darf trotzdem nicht mehr in die Ganztagskita.

Werden durch dieses Gesetz also Ganztagsplätze abgebaut?

Ja, in Bremen wurde im Vorgriff auf dieses Gesetz im vorigen Jahr das Kitagesetz geändert. Jetzt sind bei uns als evangelischer Kirche über 230 Ganztagsplätze bedroht. Dabei ist die Ganztagskita die einzige Chance für sozial schwache Kinder. Ganztagserziehung ist doch eine Bildungsaufgabe und nicht eine Aufbewahrung von Kindern berufstätiger Eltern.

Die Regierung möchte fehlende Plätze für Kinder unter drei vor allem über Tagesmütter auffangen. Ist das eine gute Idee?

Nein. Tagesmütter können nur ergänzend eingesetzt werden. Bei den Tagesmüttern findet keine systematische frühkindliche Bildung statt. Das muss in Tagesstätten passieren. Wir haben noch immer nicht begriffen, dass Kinder ab der Geburt gebildet werden müssen. International wird für die Bildung der Kinder 1 Prozent vom Bruttosozialprodukt ausgegeben, in Deutschland nur 0,4 Prozent.

Was muss denn bei Null- bis Dreijährigen gebildet werden?

Man denkt, die müssen nur nett aufbewahrt werden. Aber in diesem Alter sind die Kinder am aufnahmefähigsten. Wenn es in dieser Zeit die richtige Anregung gibt, dann profitiert das Kind sein Leben lang davon.

Ist in diesem Alter nicht die Bindung an die Mutter wichtiger als Bildung?

Dieses Denken ist ein Alibi für das Nichtstun. Die Bindung ist wichtig, aber die geht durch die Ganztagsbetreuung nicht kaputt. Das ist die Forschungslage. Die Tagesmutter-Debatte weist wieder in diese Richtung: Eigentlich reicht es doch, wenn man Mutter ist. Nein, das reicht nicht.

Eine akademische Ausbildung für ErzieherInnen ist auch in dem neuen Gesetz nicht vorgesehen, obwohl alle Welt dazu rät. Kommen wir auch so klar?

Nein. Der Erzieherberuf ist eine Sackgasse. Wer pädagogische Ambitionen hat, geht nicht mehr in diese Ausbildung. Man müsste einen Bachelor für Erzieher schaffen und einen Master für die Leitungskräfte. Das ist der internationale Standard.

Wie kommen wir denn aus dieser Lage heraus?

Der Bund braucht mehr Kompetenzen. Das muss also in der Föderalismuskommission geklärt werden. Und die Finanzierung muss auch zentral geregelt werden. Es kann doch nicht sein, dass in armen Bundesländern die Bildung der Kinder leidet. Bund und Länder müssen Mindeststandards garantieren. Schweden hat die Mehrwertsteuer für eine bestimmte Zeit erhöht, um die frühkindliche Bildung auszubauen. Neuseeland hat einen Zehnjahresplan entwickelt. Ich fahre nach Australien, um mir fortschrittliche Kindergärten anzusehen! Was wir hier brauchen, ist eine Revolution und keine Reform.INTERVIEW: HEIDE OESTREICH