Es wird Regen geben

Die Übergangslosigkeit des Berliner Zentrums, das ferne Echo eines Märchens und unterspielte Gesichter: Christian Petzold dreht zurzeit seinen neuen Film „Gespenster“. Ein Besuch am Set

VON CRISTINA NORD

An manchen Tagen sieht es aus, als müsste eine Filmproduktion in Berlin nur einem Feind ins Auge sehen: dem Regen. Es ist ein Montagvormittag im Juli, der 19. Drehtag von Christian Petzolds neuem Film „Gespenster“. In der Lobby des Marriott-Hotels am Inge-Beisheim-Platz verbreitet Florian Koerner von Gustorf gute Laune. Der Produzent, der gemeinsam mit Michael Weber die Firma Schramm Film ins Leben gerufen und Finanzierung für Regisseure und Regisseurinnen wie Angela Schanelec, Henner Winckler oder Thomas Arslan zusammengetragen hat, arbeitet zum fünften Mal mit Petzold zusammen. Es „funktioniert so gut, weil wir so gut miteinander auskommen“, sagt er, „man kann sich aufeinander verlassen.“

Ob es Probleme gegeben habe, das Budget von 2,1 Millionen Euro zusammenzubekommen? Nein, überhaupt nicht. Zwar sei es grundsätzlich schwierig, dass der RBB so wenig Geld in Filmprojekte stecken könne und die Berliner Filmemacher deswegen ohne starken Fernsehsender in ihrem Rücken leben müssten. Doch im konkreten Fall ist es anders: Seit Petzold für „Die innere Sicherheit“ den Deutschen Filmpreis erhalten hat, werden seine Förderanträge problemlos bewilligt. Für „Gespenster“, zählt Koerner von Gustorf auf, gab es unter anderem Geld von der Filmförderanstalt, vom Bayerischen Rundfunk und vom deutschen und französischen Zweig von Arte. Solange der Regisseur keine „Kranfahrt“ verlange, „um eine Mücke auf dem Beton zu filmen“, so lange komme man mit dem Budget zurecht.

Draußen, dort, wo die vom Marriot-Hotel wegführende Straßenflucht auf den Grasdamm des Henriette-Herz-Parks trifft, läuft es nicht ganz so gut. Die Schauspielerinnen Julia Hummer und Sabine Timoteo hasten die Straße entlang – erst auf Hans Fromm zu, den Kameramann. Wenn sie dessen Höhe erreicht haben, lässt er die Kamera mit ihrer Bewegung mitschwenken, sodass er die beiden nun von hinten filmt, bis sie über die Lenné-Straße im Tiergarten verschwinden.

Eben wurde die Szene gedreht, doch Julia Hummer machte auf den letzten Metern schlapp. Und jetzt? Kaum steht die Kamera auf Position, kaum hat die Maskenbildnerin die letzte Farbe in die Gesichter der Schauspielerinnen getupft, kaum ist Christian Petzold vom Kurzinterview ans Set zurückgekehrt, fallen die ersten Tropfen. Der Asphalt bekommt Sprenkel, erst ein paar, dann mehr, nach einer Weile glänzt er dunkelgrau. Keine Chance, dass er noch abtrocknet. Die Stimmung ist gespannt, die Außenaufnahmen werden abgebrochen, die Crew zieht sich zur Mittagspause zurück.

Christian Petzold dreht mit „Gespenster“ einen Film, in dem, wie er sagt, „die Märchen- und Mythenkräfte noch walten, aber nicht mehr die Kraft haben, eine Geschichte zusammenzuhalten“. Wie ein fernes Echo ist „Das Totenhemdchen“ zu vernehmen, ein Märchen der Brüder Grimm. Darin trauert eine Mutter so sehr um ihren Siebenjährigen, dass dieser im Jenseits keine Ruhe findet. „Bald darauf aber, nachdem es begraben war, zeigte sich das Kind nachts an den Plätzen, wo es sonst im Leben gesessen und gespielt hatte; weinte die Mutter, so weinte es auch, und wenn der Morgen kam, war es verschwunden.“

Um so ein „nicht zu Ende gestorbenes Kind“, sagt Petzold, geht es auch in „Gespenster“. Ein Mädchen wurde entführt; es ist nie wieder aufgetaucht. Die Mutter, die Französin Françoise (Marianne Basler), sucht es in Berlin, obwohl die Tat mehr als 15 Jahre zurückliegt. Sie glaubt, die Tochter in der von Julia Hummer verkörperten Nina zu erkennen.

Damit überschneiden sich zwei Geschichten: die von Françoise und die von Nina und Toni (Sabine Timoteo), zwei Drifterinnen, die sich mit Ladendiebstahl über Wasser halten. „Gespenster“ spielt in einer Zeitspanne von 24 Stunden, ein großer Teil des Films findet am Potsdamer Platz statt: dort, wo die Straßen unvertraute Namen haben und so neu sind wie die neoklassizistischen Fassaden. Und es trotzdem nur einen Schritt braucht, um in den Tiergarten zu gelangen. „Innerhalb von einer Sekunde“, sagt Petzold, „wird man von einem Naturzustand in einen postgeschichtlichen Zustand überführt, und diese Übergangslosigkeit des Berliner Zentrums, die habe ich auch in der Geschichte verfolgt.“

Drei Tage später steht Petzold am Hintereingang des Walter-Gropius-Baus. Noch sieben Drehtage bleiben. Die Sonne scheint zwar, aber die Wolkendecke ist dicht, und von Teltow-Fläming aus bewegt sich eine Gewitterfront auf Berlin zu. Hans Fromm hat seine Kamera, einen 35-mm-Apparat vom Typ Arriflex 535, auf dem Bürgersteig der Stresemannstraße positioniert, ein paar Schritte entfernt von dem Schaukasten, der auf die Cartier-Bresson-Ausstellung im Gropius-Bau aufmerksam macht: eine Fotografie der Berliner Mauer, Bernauer Straße, Ecke Wolliner, drei Bengel auf einem Stromkasten schauen auf die andere Seite.

„Seid ihr bereit“, fragt Petzold, „nach dem Lastwagen?“ Als der vorbei ist, fällt die erste Klappe. „Siebenundvierzig eins, die eins“. Julia Hummer, leuchtend blaues Oberteil, schwarze Jeans, weiße Turnschuhe und wie fast alle Schauspieler kleiner und zierlicher, als man sie von der Leinwand in Erinnerung hat, kommt vom Bistro Universal auf der anderen Straßenseite, überquert die Fahrbahn und geht auf dem Bürgersteig der Kamera entgegen. Vor dem Weg, der zum Gropius-Bau führt, hält sie inne. Eine Dreiviertelstunde später wird Hans Fromm hier die Nahaufnahme ihres Gesichts drehen: „Siebenundvierzig zwei, die eins“. Doch noch ist die „Siebenundvierzig eins“ nicht abgedreht. Beim zweiten Anlauf schüttelt Julia Hummer den Kopf, bevor sie ihre Schlussposition erreicht. „Aus“, ruft der Aufnahmeleiter Torsten Neubauer, „Christian, du musst mir helfen“, ruft Julia Hummer. Sie findet den richtigen Blick nicht.

„Der Blick ist das Schwierigste“, sagt Petzold später. Ihm ist es lieber, wenn Schauspieler unterspielen. Und statt sie mit psychologischen Erklärungen zur Figur zu versorgen, gibt der Regisseur ihnen lieber technische Details, damit sie sich eine Vorstellung des späteren Filmbilds machen können. Manchmal hilft er mit Filmpaketen nach: Julia Hummer hat einen Stapel von Godard- und Bresson-Videos bekommen. Manchmal erzählt er eine Geschichte, um zu veranschaulichen, was er sich vorstellt. Zum Beispiel die von dem Kind, das sich wehtut, aber erst weint, wenn es zu Hause bei seinen Eltern ist. Petzold geht es um Augenblicke wie diesen: wenn der Schmerz da ist, aber noch nicht zum Ausdruck kommt.

Es dauert noch drei Klappen, bis Petzold und Hummer zufrieden sind. Bevor für die Nahaufnahme umgebaut wird, ruft der Aufnahmeleiter: „Wir checken“, und der Kameraassistent leuchtet das Innere der Arriflex aus, um zu sehen, dass kein Staub auf der Linse war. Das Gewitter, das immer wieder aufzuziehen scheint, lässt der Crew noch Zeit: Erst am Abend geht es nieder.