Nichts erklären, alles wissen

Viele Botschaften und wenige konkrete Momente: Paul Greengrass’ politischer Spielfilm „Bloody Sunday“ über den 30. Januar 1972 in der nordirischen Stadt Derry

Bei der Pressekonferenz am Abend davor wissen alle Beteiligten bereits, was geschehen wird: Der Marsch durch die nordirische Stadt Derry am 30. Januar 1972 wird unglücklich ausgehen. Dabei hat der Mann, der die Demonstration organisiert, nur die besten Absichten. Ivan Cooper, ein Protestant, der mit den Katholiken gut kann, will gegen die Einschränkungen der Bürgerrechte durch die englische Armee Zeichen setzen. Es geht nicht an, dass Menschen in Lagerhaft genommen werden; in einem Rechtsstaat, der Nordirland doch ist. Obwohl Fallschirmjäger nach Derry unterwegs sind, glaubt Ivan Cooper noch, dass sich sein Kurs der Besonnenheit durchsetzen kann.

In „Bloody Sunday“ rekonstruiert Paul Greengrass die Ereignisse jenes Tages. Die Menschen wissen, was an jenem Tag geschehen ist; aber sie sind sich über die Deutung nicht einig. Zwischen diesen beiden Polen – einer am Faktischen orientierten und mit Mitteln der Reportage gestalteten Nacherzählung und einer Interpretation im Hinblick auf die spätere Geschichte des Nordirlandkonflikts – schwankt „Bloody Sunday“. Paul Greengrass, der dem Buch „Eyewitness Bloody Sunday“ von Don Mullan folgt, gibt sich neutral. Er wählt vier Figuren, denen er durch das Chaos dieses Tages folgt: Neben Ivan Cooper (James Nesbitt) sind dies der junge Katholik Gerry Donaghy (Declan Duddy), der eben erst aus dem Gefängnis entlassen wurde; der Brigadekommandeur Patrick MacLellan (Nicholas Farrell), der den Einsatz der Sicherheitskräfte leiten soll, aber von Beginn an gegen die Eskalationsstrategie seiner Vorgesetzten keine Chance hat; sowie ein junger Soldat, der den Demonstranten mit seiner Waffe gegenübersteht.

Greengrass bezieht buchstäblich die Position des Augenzeugen: Die Kamera nimmt Ausschnitte auf, zwischen den Szenen taucht der Film immer wieder ins Dunkel, als wollte der Regisseur betonen, dass er nur Fragmente einer Geschichte anzubieten habe. Innerhalb dieses ästhetischen Systems sind die politischen Positionen genau verteilt: Die aus England entsandten Armeekräfte haben eine andere Taktik als die einheimischen, die auf Beschwichtigung aus sind. Die IRA wiederum will innerhalb der friedlichen Demonstranten ihr eigenes Süppchen kochen. Greengrass bemüht große Vorbilder für seine Gründungslegende einer nordirischen Zivilgesellschaft, zu der es nie kam, weil sie am „Bloody Sunday“ von den Engländern zerschossen wurde. Ivan Cooper ist für ihn der neue Martin Luther King, „We shall overcome“ das Lied auf dem Marsch.

Als die Dinge schief zu laufen beginnen, kümmert sich Greengrass dann aber gerade zu wenig um die entscheidenden Figuren. Am „Bloody Sunday“ starben 13 Menschen, jedem dieser Opfer entspricht ein individueller Akt, ein Schütze, der in Panik geriet oder seinen Hass ausagierte. Genau dieser konkrete Moment des Umschlags interessiert Greengrass nicht, weil ihm seine politische Botschaft zu wichtig ist: Greengrass kann keinen geringeren Täter gebrauchen als die Krone. Aus diesem Grund lässt er genau jene Stelle leer, die nur ein Augenzeuge hätte beschreiben können. „Bloody Sunday“ erklärt nichts, weil er alles schon weiß.

BERT REBHANDL

GB/Irland 2001, R.: Paul Greengrass. Mit James Nesbitt, Tim Piggott-Smith u. a. 107 Min., Termine s. Programm