zwischen den rillen
: Bass über London

Grime ist der aktuelle Sound der britischen Hauptstadt: Wiley gilt als der wichtigste Produzent dieses Gangsta-Rave-Hybriden

Es gab eine Zeit, lange ist es nicht her, da galt der Sound der britischen Hauptstadt als Goldstandard der europäischen Clubkultur – man schaute nach London, man orientierte sich an London, so mancher DJ fuhr gar regelmäßig nach London, um dort seine Platten zu kaufen. Rare Groove, Acid-House, überhaupt die ganze Rave-Kultur der frühen Neunziger: Was in Londoner Clubs lief, das galt. Nimmt man die in Europa messbare Strahlungsstärke des Londoner Nachtlebens zum Maßstab, gilt es, eine so konstante wie dramatische Intensitätsabnahme festzustellen: Jungle, Drum ’n’ Bass, Speed Garage, 2-Step – je näher man der Gegenwart kommt, desto weniger landete vom Sound of London auf dem Kontinent.

So gesehen ist Grime der vorläufige Tiefpunkt. Gangsta-Rave wird diese Musik auch genannt, um die beiden Genres anzuzeigen, die hier zusammenfließen. Doch selbst bei gut informierten Hipstern erntet man mit einer Frage nach diesem neuesten Stil des Black London nur Achselzucken: Grime? Nie gehört. Selbst für ein so großartiges Album wie Dizzie Rascals „Boy In Da Corner“ vom vergangenen Herbst reichte es außerhalb Englands nur zum kleinen succès d’estime. Wileys nicht weniger großem „Treddin’ On Thin Ice“ dürfte es nicht anders ergehen – tatsächlich ist aber gerade die zunehmende Inkommunikabilität die eigentliche Stärke des Sound of London. Was mit dem Dubplate-Krieg der Drum-’n’-Bass-Zeit begann, jener künstlichen Verknappung der neuesten Hits, von denen nur wenige Exemplare in die Hände einiger DJs gelangten, um jede Art von Ausverkauf zu verhindern, hat mit Grime seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht: Dies ist eine Musik, die sich gar nicht mehr ausverkaufen kann, so sehr ist sie Kind ihrer lokalen Verankerung, so hermetisch für jeden, der jenseits der Sendeleistung der Londoner Piratensender lebt, die das eigentliche Medium von Grime sind.

Was einer Platte wie „Treddin’ On Thin Ice“ nichts von ihrer Faszination nimmt. 24 Maxis soll Wiley als Chef seiner Roll Deep Crew in den letzten zwei Jahren produziert und mehr als 100.000 Stück alles in allem verkauft haben. Trotzdem hat er, als wollte er den Innovationsdruck dieses lokalen Popsystems und die rasende Entwicklung seiner Szene betonen, für sein Album tatsächlich auf die drei Hits verzichtet, mit denen er sich im vergangenen Jahr einen Namen machte. Sowohl „Eskimo“ (so nennt Wiley seinen Style) als auch „Avalanche“ wie „Ice-Rink“ sind auf „Treddin’ On Thin Ice“ nur als kurze instrumentelle Interludes zu finden.

Stattdessen schüttet Wiley ein Füllhorn neuer Stücke aus. Samt und sonders sind sie auf Beats aufgebaut, wie man sie wohl nur programmiert, wenn man vor einer Playstation und neben dem Bassboxenturm eines Dancehallsoundsystems aufgewachsen ist und mit den abgelegensten Geräuschen versetzt. Das kann ein rudimentär erkennbares Klezmer-Sample sein, wie in „Wot Do U Call It?“, Froschgequake wie in „Got Somebody“ oder billige Computerspielpiepser wie in „Next Level“.

Stilistisch ist Wiley ein eleganterer Rapper als der bollerige Dizzie Rascal, wenn auch kein so begnadeter Erzähler. Wo es bei jenem um Teenage-Schwangerschaften und ähnlichen Unbill des Ghetto-Lebens geht, beschränkt sich Wiley auf poetische Preisungen seiner eigenen lyrischen Fähigkeiten.

Dass es mit Rephlex ausgerechnet das Label von Aphex Twin ist, das die erste Grime-Compilation herausbringt, erstaunt nur auf den ersten Blick, war doch ein nicht zu unterschätzender Teil dessen Musik weniger seinem Genie geschuldet als seinem offenen Ohr für den UK-Breakbeat der frühen Neunziger, einer Musik, die Grime in manchem verwandt ist. Nun ist der Anspruch an eine Compilation ein anderer als der an ein Artist-Album. Inwieweit „Grime“ einer Repräsentativität auch nur nahe kommt, ist angesichts der überwältigenden Fülle von Grime-Stücken, die man im Internet finden kann, schlicht nicht zu entscheiden.

Allerdings sollte man trotz des Labels nicht dem nahe liegenden Missverständnis erliegen, Grime sei ein Musikstil, der seinen Raum in einer selbst gewählten Nische habe. Im Gegenteil: In den armen Vierteln von London ist dies der dominierende Sound, die Musik, in der die wichtigen Probleme, Themen und Fragen verhandelt werden. Die Öffentlichkeit dieser Musik ist nur abgekoppelt von den Medien der Mehrheitsgesellschaft.

TOBIAS RAPP

Wiley: „Treddin’ On Thin Ice“ (XL Recordings/Beggars Group/ Indigo); V. A.: „Grime“ (Rephlex/ Import)