BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Ein Traum aus Blei und Cadmium

Unsere Kindheit in den 70ern war schöner? Quatsch! Es grenzt an ein Wunder, dass wir sie überlebt haben

Es war kurz hinter der holländischen Grenze. Nach acht Stunden im Auto flippten wir aus. Mein Bruder, meine Schwester und ich sprangen auf der Rückbank des VW-Käfers herum, sangen aus Leibeskräften, tobten mit den Spielsachen. Irgendwo auf einer kurvigen Landstraße, irgendwann Mitte der 70er-Jahre. Wir fuhren ohne Airbag, ohne Kindersitz, ohne Kindersicherung an der Tür.

Und überhaupt lebten wir wild und gefährlich: fuhren Fahrrad ohne Helm, schleppten unförmige scheißschwere Ranzen in die Schule und traten die ausgetretenen Schuhe der großen Geschwister weiter durch. Wir tranken H-Milch von Aldi, aßen Konserven und malten mit Lacken voller Lösungsmittel. Manche Freunde hatten sogar Eltern, die zu Hause rauchten. Ich frage mich, wie wir das überlebt haben.

Da bin ich nicht der einzige. Im Internet kursiert ein Text zu dem Thema, den das Coburger Tageblatt laut Redaktion „so schön und wahr“ fand, dass sie ihn abdruckten. Und auch der ansonsten hoch zu preisende Internetversandhandel für Kinderklamotten und -spielzeug „JAKO-O“ hob den Text und die Ergänzung des Coburger Tageblatts auf seine Homepage. Tenor des Textes: Früher hatten Kinder zwar blaue Flecken, aber mehr Freiheit und eine schönere Kindheit. Heute packen Eltern ihre Kinder in Watte.

„Ganz Unrecht hat der Text nicht“, meinte Anna. In der Tat: Es gibt diese Eltern, die sofort klagen, wenn ihr Sprössling vom Klettergerüst fällt. Die ihren Kindern verbieten, mit anderen aus einer Flasche zu trinken. Die die Erziehung an die Playstation delegieren. Die für ihren Nachwuchs Cola light bestellen und sich wundern, wenn ihr Kind trotzdem fett wird.

„Aber irgendwas stört trotzdem“, sagte meine Frau. Zum Beispiel die Zitate: „Unsere Bettchen hatten Farben voller Blei und Cadmium“, „Wir brachen Zähne und Knochen, das waren eben Unfälle“, „Wir schlugen einander blau und grün“ … Der Tenor des hoch gelobten anonymen Textes ist: „Und? Hat es uns geschadet?“

Die Antwort ist: Ja. Es hat uns geschadet. „Brot mit Butter dick – die Kinder der 50er-, 60er- und 70er-Jahre erinnern sich“ heißt der Text, aber diese Kinder leiden unter partieller Amnesie. Denn in der guten alten Zeit war das Kinderleben gar nicht so lustig. Vieles hat sich enorm verbessert. Das zeigt ein Blick in die Statistik: So sind die tödlichen Unfälle von Kindern im Straßenverkehr seit Anfang der 70er-Jahre von etwa 2.000 getöteten Kindern im Jahr auf 200 Tote zurückgegangen. Ein Rückgang um 90 Prozent! Die Luft in den Städten, das Wasser aus dem Hahn und im Fluss waren der tägliche Giftcocktail. Die ärztliche Versorgung bestand im Vergleich zu heute aus Versuch und Irrtum, kombiniert mit dem Holzhammer der Antibiotika.

Der Effekt der angeblichen Übervorsicht von Eltern und Behörden: Heute ist die Kindersterblichkeit in den OECD-Ländern fünfmal niedriger als noch 1960. Auch die „Bundesarbeitsgemeinschaft Kindersicherheit“ gibt an, es habe in den letzten Jahrzehnten eine „riesige Abnahme“ bei tödlichen Unfällen von Kindern im Haushalt gegeben: Starben noch vor 15 Jahren etwa 10 von 10.000 Kindern an Unfällen, sind es heute etwa 4. Unfälle mit Bränden oder Verbrühungen, schwere Verletzungen in der Küche sind ebenfalls deutlich zurückgegangen.

Und war der Gefühlshaushalt der Kinder vor einer Generation mehr im Lot als heute? Es gab nicht so viele Scheidungskinder – aber die Grabenkämpfe tobten in den Familien. Es gab mehr Geschwister – aber auch viele Kinder, die sich später über mangelnde Zeit und Zuwendung ihrer Eltern beklagt haben. Es gab nicht die Terrorangst von heute – dafür aber die Furcht vor dem täglichen Atomtod oder davor, dass die Russen (respektive: die Amis) kämen.

Ganz so toll kann die Kinderwelt vor einer Generation ja nicht gewesen sein. Sonst würden wir schon Mittel und Wege finden, um die Zeit zurückzudrehen. Wir sind nämlich die, die vor dreißig Jahren Kinder waren. Und wir können uns noch gut erinnern.

Fragen zur Amnesie? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN